FINSTERE NACHT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350885
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Als niemand antwortete, gab Seth der Tür einen kleinen Schubser. Sie schwang langsam auf und gab den Blick nach innen frei. Der winzige Raum war leer. Seth wandte sich wieder Louis zu und schüttelte den Kopf, wobei seine Erleichterung wieder zu Sorge wurde. Er näherte sich der Vordertür, so weit er konnte, ohne in die Schneewehe zu treten und starrte in die Nacht hinaus.

       Nichts war zu sehen, außer Dunkelheit und Schneeflocken.

       »Raymond«, rief er, »Ray?«

       »Warum zur Hölle würde er nach draußen gehen?« Louis schnappte sich seine Jeans vom Fußende des Betts und stieg mit einer wackeligen, hüpfenden Bewegung hinein, die Seth unter allen anderen Umständen wahrscheinlich zum Lachen gebracht hätte. Dann machte er sich auf die Suche nach seinen Stiefeln.

       Seth drehte sich hilflos von der Tür weg. »Ich … ich weiß nicht.«

       »Es muss irgendwas passiert sein!«

       Je mehr Seths Verstand sich schärfte und vom Traumzustand entfernte, um so mehr wusste er, dass Louis recht hatte: Es war etwas passiert. Etwas Schlimmes. Raymond war noch nie hier oben gewesen, er kannte sich in der Umgebung überhaupt nicht aus. Und was das Ganze noch schlimmer machte: Keiner aus der Gruppe hatte Erfahrung mit der Wildnis. Louis war der Einzige, der ab und zu mal campte und etwas mehr über die Natur hier oben wusste. Aber das war nicht sehr viel. Unterm Strich waren sie alle nur Stadtkinder. Wenn man nun noch den unerwarteten Schneesturm mit einbezog, der die Dimensionen eines Blizzards hatte, dann deutete alles auf eine Katastrophe hin.

       »Warte mal einen Moment«, sagte Louis plötzlich. »Christy ist auch weg!«

       Der Rest des vorigen Abends war ein bisschen verkrampft aber insgesamt ereignislos verlaufen. Sie hatten sich kaum mit Christy unterhalten, da sie die meiste Zeit geschlafen hatte und nur für das Abendessen aus dem Bett kam. Später in der Nacht hatten sie dann Feuer gemacht und sich schließlich schlafen gelegt. Von den drei vorhandenen Betten hatten sie eines Christy zugeteilt und dann Münzen um die beiden anderen geworfen. Seth und Louis hatten gewonnen, also hatten Darian und Raymond mit Schlafsäcken vorlieb nehmen müssen.

       Aber all das schien Seth immer noch nebulös und nicht greifbar zu sein, als ob in den Tiefen seiner Erinnerung noch andere Dinge existierten, an die er denken wollte, an die er sich erinnern musste, es aber nicht konnte. Es schien ihm alles so irreal. Waren das wirklich Erinnerungen, oder nur Träume?

       Seth fiel wieder ein, dass er schon einmal in dieser Nacht aufgewacht war, und Raymond in einem Stuhl am Kamin sitzen sehen hatte, wie er in die Flammen starrte. Wie verabredet hatte er die erste Schicht übernommen, um wach zu bleiben und ein Auge auf Christy zu werfen.

       »Ray«, hatte Seth geflüstert, »alles in Ordnung?«

       Als Antwort hatte er nur ein leichtes Nicken erhalten.

       »Ich bin als Nächster dran. Dann legst du dich in mein Bett, okay? Wenn ich fertig bin, nehme ich den Schlafsack, ist kein Problem.«

       »Alles gut. Ich wollte mir sowieso das Feuer noch ein bisschen ansehen. Bin gar nicht wirklich müde.«

       Seth schaute rüber zu dem Bett, wo Christy friedlich schlummerte. »Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«

       »Ich hab einfach ein bisschen viel getrunken.« Raymond hielt eine Flasche Jack Daniels hoch und lächelte schelmisch. Er hatte schon den ganzen Abend damit verbracht, die Flasche war fast leer. »Leg dich ruhig wieder hin und schlaf noch ein bisschen, mir geht's gut.«

       Das schien alles so verdammt lange her, dachte Seth, so entfernt und verschwommen, als wäre es vor Jahren passiert und nicht vor ein paar Stunden.

       Darian wurde wach, während Seth und Louis sich anzogen, doch er blieb zitternd in seinem Schlafsack liegen. »Was ist denn … was … was ist los?« Er tastete hektisch nach seiner Brille, fand sie und setzte sie auf. »Das ist ja die reinste Kältekammer hier!«

       »Ray ist draußen«, erklärte Louis ihm, »Christy ist auch weg.«

       »Was? Wieso?«

       Statt eine Antwort zu geben, zog Seth seine Jacke über und folgte Louis zur offenen Tür. Er kickte im Vorbeigehen in die Schneewehe, die sich an der Türschwelle gebildet hatte, und schlüpfte dann hinaus in die Nacht. Ein endloses Meer weißer Flocken taumelte ihm entgegen, der Hintergrund bloß dichteste Dunkelheit. Die resultierende Sichtweite betrug kaum mehr als ein paar Meter.

       »Ich kann keine Fußabdrücke sehen, aber der Schnee kommt so schnell runter, dass sowieso alles innerhalb von Minuten verdeckt ist!« Louis formte mit seinen Händen einen Schalltrichter und schrie in die Dunkelheit hinaus. »Ray! Hey, Ray!« Seine Stimme hallte durch die nahe gelegenen Bäume, bevor sie vom Sog des Windes verschluckt wurde.

       »Was zum Henker kann sie dazu getrieben haben, da raus zu gehen?«, fragte Darian hinter ihnen.

       »Ich wusste es doch, wir hätten dieser Schlampe nicht trauen dürfen!« Louis drehte sich zu Seth. »Hol das Gewehr. Ohne das Ding machen wir keinen Schritt weiter.«

       »Sei nicht albern. Wir stehen hier mitten in einem Blizzard!«

       »Hol einfach das Gewehr, es ist in der Kammer.«

       »Wir reden hier über meinen Bruder, Louis! Wir müssen ihn finden. Jetzt sofort!«

       Louis starrte ihn an, sein verkrampftes Gesicht kaum beleuchtet. »Dann hol das verdammte Gewehr!«

       Nach einem kurzen Innehalten nickte Seth schließlich und tat wie ihm geheißen.

       Darian steckte immer noch in seinem Schlafsack, doch er kämpfte sich in eine stehende Position hoch und hopste in kleinen Sprüngen zu ihnen herüber. »Seid vorsichtig! Geht bloß nicht zu weit raus!«

       Louis und Seth traten hinaus in die Dunkelheit.

       Der Schnee war noch tiefer, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Ihre Füße sanken ein, als sie sich durch den dichten Vorhang aus Schneeflocken voran kämpften. Die Silhouette von Louis' schneebedecktem Geländewagen schälte sich neben der Hütte aus der Dunkelheit. Seth zog seine Jacke dichter um seinen Körper und kniff die Augen zusammen, um durch den Sturm den nahe gelegenen Wald erkennen zu können. Die Schotterpiste, die zur nächstgelegenen Hauptstraße führte, war komplett unter einer weißen Decke verschwunden. Dadurch dauerte es einen Moment länger, bis er sich orientieren konnte. Jedenfalls war ihm sofort klar, dass niemand hier draußen lange überleben konnte. Die Tatsache, dass Raymond den ganzen Tag getrunken und die Nacht nicht geschlafen hatte, machte das Ganze noch schlimmer. Visionen zuckten über die Mattscheibe seines Gehirns: Sein kleiner Bruder, irgendwo außerhalb ihres Blickfeldes an einen Baum gelehnt, desorientiert und unter Schock, langsam ersten Erfrierungen und unendlicher Müdigkeit nachgebend …

       »Ray«, rief Seth. »Raymond!«

       Louis ging einige Schritte voran, in gebückter Haltung und mit dem Gewehr im Anschlag, wie ein Soldat auf Patrouille. Trotz des Ernstes der Lage konnte Seth einfach nicht ignorieren, wie albern er aussah; als würde ein kleines Kind Krieg spielen. Louis zögerte und sah sich um. Seth blickte zurück und war froh, die Hütte mit Darian in der Eingangstür noch erkennen zu können.

       »Siehst du irgendwas?«, schrie Louis durch den Sturm.

       »Nein, gar nichts!«

       »Ich drehe eine Runde um die Hütte. Du bleibst dicht an mir dran, okay? Direkt an meinem Arsch!«

       Hintereinander stapften sie durch den Schnee, an der Flanke des Fords vorbei und von dort zur Rückseite der Hütte. Da hinten gab es nicht viel, außer noch mehr Wald und einem kleinen Werkzeugschuppen. Sie hatten kein einziges Lebenszeichen ausmachen können, weder von Raymond noch von Christy. Der Wind wurde stärker, er heulte auf und durchdrang scheinbar mühelos die Kleidung der beiden Männer. Seth zitterte unkontrolliert, er drückte sein Kinn so dicht er konnte an die Brust und zwang sich, weiter zu gehen. Wo zur Hölle bist du, Ray? Was ist mir dir passiert?

       Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit überkamen ihn, Bilder von Raymond und ihm beim Spielen blitzten durch sein Hirn. Sein lächelndes Gesicht, so jung und unschuldig und voller Freude. Das ist so lange her, dachte Seth, so verdammt lange her. Wenn ihm etwas zugestoßen