FINSTERE NACHT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350885
Скачать книгу
sich an, als wäre ich auch jung.« Du bist vier Jahre älter als Raymond, Seth. Bist du in dem Traum auch vier Jahre älter als Raymond? »Ich weiß nicht, ich glaube schon. Ja – so muss es sein. Ich muss zwölf sein.« Was siehst du noch? »Wir rennen … wir rennen durch den Schnee. Er ist in dem Zustand aufgewacht, er – er hatte diese … Probleme.« Probleme? »Das habe ich doch schon erzählt … als Kind hatte er nachts diese furchtbaren Panikattacken. Er ist mitten in der Nacht aufgewacht und war einfach total außer sich vor Angst. Er war doch nur … ein kleiner Junge.« Wann hat das angefangen, Seth? »Als er so sieben oder acht war.« So alt, wie in dem Traum. »Ja.« Wann ist das zum ersten Mal passiert, erinnerst du dich? »Nein, ich … ich kann mich nicht an das erste Mal erinnern. Vielleicht …« Vielleicht was, Seth? »Vielleicht ist das hier das erste Mal.« Aber du bist nicht sicher? »Nein, aber … ich glaube, es könnte so sein.« Wo sind eure Eltern in dem Traum? »Ich weiß nicht, ich – ich weiß nur, dass sie nicht da sind. Sie können uns nicht helfen.« Was siehst du jetzt? »Schnee. Raymond rennt und weint, er schreit um Hilfe und ich bin neben ihm.« Kannst du erkennen, wo ihr seid? »Nein, es ist … einfach Nacht. Finstere Nacht. Er rennt, stolpert und kämpft darum, im Schnee die Balance zu behalten.« Wohin rennt er, Seth? »Ich … ich weiß es nicht.« Ist es in der Nähe des Hauses, in dem ihr aufgewachsen seid? »Ja, das – das muss es sein.« Ist es das erste Mal, Seth? Ist das, was du siehst, das erste Mal, wo es passiert ist? »Ich weiß nicht. Es kann sein, aber ich – ich weiß es nicht.« Okay. Was passiert als Nächstes? »Nichts.« Nichts? Der Traum hört einfach auf? »Wie am Ende eines Filmes, wo es dann so …« … dunkel wird? »Ja.« Endet der Film dort, Seth, im Dunklen? In der Finsternis? »Ja.« Wie oft hast du Raymond hinter dem Haus gefunden, als ihr klein ward? Wie oft ist er schlafgewandelt oder von seinen Albträumen aufgewacht, und dann schreiend aus dem Zimmer gerannt? »Ich weiß nicht. Es war einfach so oft.« Wann hat das aufgehört? »Als wir etwas älter waren.« War das vor oder nach dem Tod eurer Eltern? »Weit davor. Raymond war immer noch sehr klein. Wir beide waren es. Als unsere Eltern starben, waren wir schon erwachsen.« Und diese Vorfälle haben einfach aufgehört, die nächtlichen Panikattacken? »Ja.« Und seitdem hatte er sie nicht mehr? »Nicht, dass ich wüsste, aber ich sehe Raymond jetzt auch nicht mehr so oft, er steckt ständig in Schwierigkeiten. Wir haben auch als Erwachsene nicht viel darüber geredet. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass er sie noch hat. Er hat nie wieder etwas in dieser Richtung erwähnt.« Was kannst du mir noch über den Traum sagen? Seth nahm den Arm weg, den er sich über die Augen gelegt hatte. Seine Augen fokussierten auf die niedrige Decke über ihm, eine menschliche Präsenz spürte er nur vage im Grenzbereich seines Sichtfeldes. Er verschränkte die Arme über seiner Brust, als würde er im Sarg liegen, nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen wieder. Es schien ihm einfacher, in die Dunkelheit zurückzukehren. »Das ist alles.« Er hörte, wie ihr Stuhl auf dem plüschigen Teppich rutschte, wie ihr Rock knisterte, als sie die Beine übereinanderschlug. Sie sah ihn jetzt an, das konnte er spüren; ihre grünen Augen starrten über ihre Schildpattbrille, den kleinen Notizblock hielt sie wie immer in ihren zierlichen Händen. »Möchten Sie vielleicht lieber über etwas anderes sprechen?«, fragte sie in ihrer samtweichen Stimme, die er gleichzeitig lieben und hassen gelernt hatte. Sie war immer so überaus fordernd und hatte passive Aggressivität quasi zu einer Kunstform erhoben. »Schließlich ist das alles nicht wirklich ein Traum. Das wissen Sie, Seth, oder?« »Ja.« Er seufzte. »Es ist eine Erinnerung.« »Es ist nicht ungewöhnlich«, sagte sie, wobei sie eine Kunstpause machte, bevor sie den Satz beendete, »Erinnerungen in Form von Träumen zu verarbeiten. Manchmal ist das leichter.« Seth öffnete seine Augen und drehte den Kopf nach rechts, um seine Aufmerksamkeit auf sie zu verlagern. Sie trug einen neuen Rock – den kannte er noch nicht – und neue Pumps. In den gesamten zwei Monaten, die er jetzt schon hierher kam, hatte sie nie das gleiche Outfit zweimal getragen. »Damals war es ein ganz normales Vorkommnis, aber in letzter Zeit gehen mir diese Erinnerungen immer wieder durch den Kopf.« »Aber diese Vorfälle haben genau so plötzlich aufgehört, wie sie begonnen hatten, ja?« »Ja.« »Halten Sie es für möglich, dass einer von Ihnen, oder sogar Sie beide, wissen, was diese Panikattacken ausgelöst hat, aber Sie sich einfach nicht daran erinnern können – oder wollen?« »Ja, das halte ich durchaus für möglich.« »Und als Erwachsene haben Sie und Ihr Bruder nie über diese Erlebnisse gesprochen?« »Nein, nicht wirklich.« Er musste schlucken, aber sein Mund war staubtrocken. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich aufrichten zu müssen, und er folgte dem Impuls. Ein leichter Kopfschmerz begann hinter seinen Augen zu klingeln. Er schwang die Füße von der Liege und nahm eine sitzende Haltung ein. »Raymond hatte … Probleme … so war es einfach. In dieser Zeit konnte man nie wissen, was nachts mit ihm passieren würde.« Seth rieb sich die Schläfen und schaute dann zu Boden. »Ich habe nie jemanden so angsterfüllt gesehen.« »Wie haben Sie sich da gefühlt Seth? Ihren Bruder so erleben zu müssen?« »Hilflos. Ängstlich. Verwirrt. All das, was man erwarten würde.« Er starrte auf den Teppich. »Meine Eltern brachten ihn zu Ärzten, sogar zu einem Kinderpsychiater und Schlafspezialisten, aber nichts hat geholfen.« »Haben sie denn auch jemals etwas Ähnliches für Sie getan, Seth?« Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Raymond war derjenige mit den Problemen.« »Natürlich, aber das hatte doch auch Auswirkungen auf Sie.« Sie hob eine Augenbraue. »Zeuge dieser Vorfälle zu werden und mit dieser ständigen Anspannung zu leben, muss doch eine traumatisierende Wirkung auf Sie gehabt haben, meinen Sie nicht?« Doktor Farrow sah in ihrem kurzen Rock mit passender Jacke besser aus als je zuvor. Die hautfarbene Bluse, die sie darunter trug, gewährte einen kleinen Ausblick auf ihren BH aus Spitze, der durch ihre üppigen Brüste gut ausgefüllt schien. Professionell, aber sexy – das war ein Look, der ihr sehr gut stand. Seth fragte sich, warum es so wichtig für sie war, Ihr berufliches Auftreten mit solch einem Sex-Appeal zu verbinden. Wie haben Sie sich da gefühlt? Diese Frage würde er ihr auch gerne einmal stellen. Seine Augen wanderten an ihren übereinandergeschlagenen Beinen herunter und endeten auf einem leicht wippenden Fuß, von dem der Schuh nur von den Zehen gehalten herunterhing. Der Anblick ihrer Ferse in der Nylonstrumpfhose war auch irgendwie sexy, auch wenn Seth sich gar nicht sicher war, inwiefern. »Seth?«, sagte sie, um seine Tagträume zu beenden. »Würden Sie mir da zustimmen?« Seine Augen fanden ihre. Sie hatte seine anzüglichen Blicke eindeutig bemerkt, aber es schien ihr nichts auszumachen. Wahrscheinlich war sie als attraktive Frau einfach daran gewöhnt. Sie sah aus wie eine typische Vorzeigeehefrau, die sich auf schicken Cocktailpartys in exklusiven Klubs zuhause fühlte; eine Frau, die gut behütet aufgewachsen war und auch heutzutage keinen Mangel befürchten musste. Etwas weniger nett gesagt: Sie war sicherlich immer verwöhnt worden. Trotzdem machte sie das noch lange nicht zu einem dummen Blondchen. Frau Doktor war schlau, akademisch gebildet. Die vielen gerahmten Diplome an der Wand ließen daran keinen Zweifel. Sie war die Art Frau, die ihr Aussehen und ihren Körper einsetzen konnte, wenn sie es wollte, aber niemals, weil sie es musste. Ihr Verstand war sicherlich die schwerste Waffe in ihrem Arsenal, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so schien. Auf eine Art half das auch, ihre etwas eingebildet wirkende Art zu erklären. Und wenn Seth genauer hinsah, richtig genau hinsah, dann konnte er unter ihrer sorgfältig präsentierten Oberfläche noch ganz andere Dinge entdecken. Er sah Leidenschaft, Spuren einer Frau, die ihre Lebenszeit nutzte, Menschen wie ihm zu helfen. Er fragte sich, wie so oft, worüber sie mit ihrem Ehemann in ruhigen, zweisamen Momenten redete. Er fragte sich, wie sie im Bett war. Was für Geräusche sie machte, wie ihre Augen dabei aussahen, mit welchem Muster sie atmete. Obwohl er nicht wusste, wie lange sie verheiratet war, musste es schon eine ziemlich lange Zeit sein. So wie bei ihm. »Ja, das hatte sicherlich eine Wirkung auf mich«, sagte er schließlich. »Es hatte eine Wirkung auf die ganze Familie. Wie könnte es auch anders sein?« »Genau.« Sie ließ ihre Antwort eine Weile im Raum stehen. »Hat Raymond Ihnen jemals gesagt, was diese Panikattacken seiner Meinung nach hervorgerufen hat?« »Er hat immer behauptet, er wüsste es nicht.« »Und die Ärzte, zu denen Ihre Eltern ihn geschickt haben?« »Das ist ja schon Jahrzehnte her. Ich schätze mal, die Mediziner wussten damals noch nicht so viel über Panikattacken wie heute. Sie hatten natürlich eine ganze Menge von Begründungen, aber die meisten gingen in die Richtung von posttraumatischen Störungen oder einfach Geisteskrankheit. Ich habe nie daran geglaubt, und er auch nicht.« »Können Sie mir sagen,