kein Arsch, klar freue ich mich, dich zu sehen.« Raymond wirkte fahrig, als hätte er sich noch nicht wieder daran gewöhnt, sich in Freiheit zu bewegen. »Falls es dich interessiert; auf dem Weg in die Stadt habe ich angehalten, um Mom und Dad zu besuchen.« Raymond konnte im Handumdrehen wieder wie der unschuldige Junge wirken, dachte Seth, so ehrerbietig, wie er von ihnen sprach, als wären sie friedlich im Schlaf gestorben. »Ich hab Blumen für Mom mitgebracht«, sagte Raymond. Seth stellte sich vor, wie sein Bruder im Regen auf dem Friedhof stand, einen Strauß vertrocknende, sterbende Blumen in der Hand, die er wahrscheinlich von einem Grab in der Nähe gestohlen hatte. »Ich war schon seit Jahren nicht mehr da«, sagte Seth. »Ja, das habe ich bemerkt.« Raymond näherte sich der Couch. »Haben die da nicht mal einen Friedhofsgärtner oder so was?« »Ray, wir müssen reden.« Er ließ sich nichts anmerken. »Meinst du?« »Ich meine es ernst.« »Was du nicht sagst.« »Können wir uns wie Erwachsene unterhalten, oder willst du die ganze Nacht nur Witze reißen?« »Manche Leute pfeifen im Dunkeln eine Melodie«, antwortete er. »Ich habe stattdessen gelernt, zu lachen.« »Aber keines von beidem hilft.« Ein Funken glitzerte in Raymonds dunklen Augen. »Ich fürchte, da hast du recht.« Seth atmete tief ein. Auf einmal fühlte es sich an, als wären die Wände näher herangerückt. »Hast du schon was gegessen?« »Ja, gestern.« »Dann lass uns was essen gehen, du musst doch am Verhungern sein!« Raymond schaute das regennasse Fenster an, das auf der gegenüberliegenden Zimmerseite noch immer im Schatten lag, dann legte er den Kopf schief, als hätte er etwas Komisches gehört. »Wohnst du hier immer noch alleine?« Eine Welle von Angst schlug gegen Seths Brustkorb. »Das weißt du doch, wieso–« »Kann ich ein Glas Wasser haben? Ich muss eine Tablette nehmen.« »Was für eine Art von Tablette?« Raymond seufzte, griff in seine Tasche und wühlte darin herum, bis er eine kleine Medikamentendose zum Vorschein brachte. Weil Seth ihn immer noch fragend ansah, warf er sie ihm herüber. »Accupril?«, las Seth vor. »Das ist gegen hohen Blutdruck.« »Seit wann hast du denn hohen Blutdruck, Ray?« »Seit ungefähr einem Jahr.« Seine Antwort hing bedeutungsschwer im Raum. »Kriege ich jetzt das Wasser? Ich muss jeden Tag eine nehmen.« Seth gab ihm die Dose zurück, verschwand in der Küche und kehrte einen Augenblick später mit einer Flasche Wasser zurück. Raymond nahm seine Pille und leerte dabei gleich die Flasche. »Danke.« »Warum hast du hohen Blutdruck, Raymond?« »Sie wissen es nicht genau.« Sein Gesicht blieb neutral. »Aber sie glauben, es hat etwas mit Stress zu tun.« »Stress ist wirklich etwas Furchtbares.« Raymond nickte langsam. »Ich schätze, du hattest in letzter Zeit selbst genug davon. Hat mir echt leidgetan, das mit dir und Peggy zu hören, Mann. Wie geht es ihr?« »Ich hab schon eine Weile nicht mehr mit ihr gesprochen.« »Das ist wirklich schade.« »Ja, ist es.« »Ich habe sie immer gemocht.« »Ich auch.« Raymond versuchte nicht mal, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. »Siehst du sie denn manchmal?« »Wir reden ab und zu.« »Nur noch ab und zu? So schlimm ist es schon?« Er zuckte mit den Schultern. »Liebst du sie noch?« »Liebe wird doch überbewertet«, sagte er matt. »Nur, wenn man sie nicht hat.« Beide Männer schwiegen eine Weile. »Warum hast du gefragt, ob ich hier alleine wohne, Raymond?« »Ich dachte, ich hätte was gehört.« »Was denn?« »Angst.« Seth fühlte, wie ein kalter Hauch über seine Beine lief. »Angst hört man aber nicht, man spürt sie.« »Tja, wir sind alle unterschiedlich, nicht wahr, Brüderchen?« »Wir müssen reden, Ray. Ich kann … ich halte das nicht mehr aus.« Raymond nickte. »Ich könnte allerdings erst mal einen Drink vertragen.« »Ich kenne da den richtigen Ort.« Ihre Blicke trafen sich, als beide Männer ihr Bestes taten, die Echos von Schreien in ihren Köpfen zu verdrängen. Währenddessen krochen die Schatten immer weiter die Wände hoch. Und jenseits der schützenden Mauern der Wohnung setzte der Regen seinen Sturmangriff fort, fest entschlossen, die Welt reinzuwaschen.