FINSTERE NACHT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350885
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»Aber du konntest sie nicht finden? Keine Spur von ihr?« »Genau.« »Wie konntest du so lange da draußen sein, ohne zu erfrieren?« Seth rückte dichter an ihn heran. »Antworte, Raymond. Wo warst du?« »Habe ich dir schon gesagt.« »Du lügst.« Die Direktheit von Seths Angriff hätte ihn zumindest erschüttern müssen, aber es war keinerlei Reaktion zu erkennen. Stattdessen wirkte Raymond beschäftigt, als würde sein Starren in das Feuer irgendeine besondere Bedeutung haben. Nachdem einige Zeit vergangen war, sagte er: »Warum sollte ich das tun?« Es war einfach unmöglich, dass er über dreißig Minuten in dem Sturm überlebt hatte. Das war die Zeit, die er laut Seths Rechnung verschwunden war. Raymond hatte schon immer seine Probleme gehabt, aber dies war etwas völlig neues. »Raymond«, sagte Seth sanft, »ich will doch nur wissen, dass es dir gut geht.« Sein Bruder antwortete nicht, er starrte einfach in die Flammen. Und dann dämmerte es Seth. Der Ford Explorer. Raymond musste sich in dem Geländewagen versteckt haben. Das war die einzig mögliche Erklärung. Er hatte aus Versehen die Tür der Hütte offen gelassen und sich auf die Suche nach Christy gemacht. Als er sie nicht finden konnte, hatte er Zuflucht in dem Fahrzeug gesucht. Als ihn die Kälte aufweckte und er sah, dass sie nach ihm suchten, hatte er schweigend zugesehen, wie sie sich seinetwegen zum Narren machten. Nachdem sie wieder in die Hütte zurückgekehrt waren, muss er dann beschlossen haben, die Scharade zu beenden – wahrscheinlich, weil er wusste, dass sie als nächsten Schritt den Explorer benutzen würden. Also verließ er den Wagen, wartete draußen, bis er einigermaßen erfroren aussah, und schlich sich dann zur Hütte – wobei er vielleicht noch dem Ende ihrer Diskussion gelauscht hatte. Aber warum das alles? Es sah Raymond gar nicht ähnlich, so einen kindischen Streich abzuziehen. Was bezweckte er damit? Was wollte er beweisen? Das machte alles keinen Sinn. »Leg dich hin, Seth«, sagte Raymond. »Ich sehe dich dann morgen früh.« »Warum nimmst du nicht das Bett und ich den Schlafsack?« »Nein, mach du mal. Ich bleibe noch eine Weile auf.« Seth nickte langsam. »Dann reden wir morgen darüber.« Er schlurfte hinüber zum Bett und machte es sich gemütlich, wobei er die Decke bis ans Kinn zog. Er versuchte sich zu entspannen, aber der gesamte Nachmittag schien immer noch so surreal und zehrte weiter an seinen Nerven. Der Sinn dieses Ausflugs war eigentlich gewesen, mal aus dem Büro rauszukommen, den ganzen Stress der Arbeit und den Alltag hinter sich zu lassen und sich zu erholen. Ein Wochenende in Maine, umgeben von Meilen wunderschönen Waldgebietes. Sie hatten nichts weiter vorgehabt, als zu trinken, Karten zu spielen und den ganzen Trubel der Stadt durch die Ruhe der Natur zu ersetzen. Raymond war eigentlich nicht Teil des Plans gewesen, aber als er unerwartet auftauchte, wie er es immer tat, brachte Seth ihn mit – voller Vorfreude darauf, eine schöne Zeit mit seinem Bruder verbringen zu können. »Hey, Seth?« Damit waren seine Gedanken unterbrochen, er stützte sich auf die Ellenbogen, um Blickkontakt mit Raymond zu bekommen. Der schaute immer noch in die Flammen. »Ja?« »Tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe.« »Schon in Ordnung«. Seth legte sich wieder hin und sah dem Schattenspiel zu, dass das Feuer an Wänden der Hütte und der tief liegenden, dunklen Decke inszenierte. »Mach das einfach nicht noch mal, okay?« Schließlich gab er seiner Erschöpfung nach und entschlummerte schnell in tiefen Schlaf. Als er davongetragen wurde, hätte er schwören können, Raymond weinen zu hören. Aber vielleicht war das schon sein Traum, er wusste es nicht. Wenigstens hatte er nicht wieder die schlimmen Albträume von einem merkwürdigen Gewitter, auf ihn hinabstürzenden Wolken und flüsternden Geistern. Stattdessen konnte er sich in den kurzen Momenten, wo er wach wurde, nur an eine tiefe Finsternis erinnern. Eine absolute Leere. Nichts.

      ***

      Es war kurz vor Sonnenaufgang, als Seth spürte, dass ihn jemand an der Schulter schüttelte. Er wurde wach und sah Louis neben seinem Bett hocken, komplett angezogen, und mit einem Finger auf den Lippen, der ihm bedeutete, leise zu sein. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm Seth Aufmerksamkeit schenkte, deutete er auf das langsam absterbende Feuer.

       Raymond schlief tief und fest auf dem Stuhl. Auf dem Boden in der Nähe lag Darian genauso ruhig in seinem Schlafsack.

       Seth rollte sich aus dem Bett und folgte Louis leise durch den Raum zu der kleinen Kochecke. Dort warf Louis noch einmal einen Blick auf die anderen, um sicherzugehen, dass sie schliefen. Er wirkte gestresst und erschöpft. »Hier stimmt etwas nicht, Seth«, sagte er flüsternd. »Die Sache mit Ray. Letzte Nacht, das war–«

       »Entspann' dich. Ich bin auf die Lösung des Rätsels gekommen. Er hat sich in dem Explorer vor uns versteckt, das ist alles. Ich weiß zwar nicht genau, warum er das gemacht hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so war.«

       »Kann nur leider nicht sein, ohne die Autoschlüssel.«

       »Ich sage ja nicht, dass er die Zündung angemacht hat, oder irgendwo hin gefahren ist, er saß nur da drin.«

       »Nein Seth, ganz sicher nicht.« Er griff in seine Jeanstasche und zog einen Schlüsselbund hervor. »Ich hatte die Schlüssel die ganze Zeit.«

       »Aber die Türen waren doch–«

       »Geschlossen. Ich weiß das ganz genau, weil ich sie abgeschlossen habe.« Louis blinzelte hektisch, rang sich ein gequältes Lächeln ab und deutete auf den Knopf für die Alarmanlage, der die Zentralverriegelung betätigte und dabei einen nervigen, jaulenden Ton auslöste.

       In seiner Erinnerung sah Seth, wie er und Raymond die letzten Sachen aus dem Geländewagen holten, das war gleich nach dem Essen gewesen. Er sah Louis davon gehen, der mit dem Autoschlüssel über seine Schulter auf den Wagen zielte. Das laute Alarmgeräusch und das Klackern der Türschlösser hallten durch seine Gedanken.

       »Wahrscheinlich Gewohnheitssache«, sagte Louis. »Ich schließe den Wagen immer ab. Also waren die Türen zu, bevor Ray und Christy verschwunden sind.«

       »Vielleicht hat er sich die Schlüssel–«

       »Die haben meine Jackentasche nie verlassen. Das habe ich gleich überprüft, weil ich dachte, sie hätte uns vielleicht unsere Brieftaschen geklaut.«

       »Tja, aber wo zur Hölle war er dann?«

       »Das ist genau der Punkt, Mann. Wo zur Hölle war er?«

       »Er muss draußen herumgerannt sein, wie er sagte.«

       »Seth, hör mir mal zu. Kein menschliches Wesen könnte so lange da draußen überleben.«

       »Er hat es aber getan.« Seth schüttelte den Kopf, als könnte er so all die Gedanken loswerden, die ihn bedrängten. »Anfängerglück vielleicht? Oder Gottes Gnade?«

       »Ich dachte, du glaubst nicht an Gott.«

       Er schaute weg. »Ich glaube an Gott, Louis«, sagte er leise. »Es ist nur so, dass ich ihm nichts mehr zu sagen habe.«

       »Ich schätze mal, er war etwa 30, 40 Minuten draußen in dem Sturm. Hast du mir zugehört? Kein Mensch kann das so lange aushalten.«

       »Hör auf, so melodramatisch zu sein!« Seth verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Offensichtlich hat er es ja irgendwie geschafft.«

       »Von dem Moment an, wo das Mädchen hier ankam … stimmt hier einfach gar nichts mehr. Irgendwas läuft hier falsch, Mann, total falsch!«

       Seth kannte Louis nun schon seit Jahren, aber er hatte ihn noch nie so außer sich erlebt. »Es waren ein komischer Tag und eine komische Nacht, das steht außer Frage.«

       Louis sah ungewöhnlich blass aus. »Ich will hier draußen nicht sterben!«

       »Sterben?« Seth lachte reflexartig, aber es war ein nervöses Lachen, getränkt mit Angst anstelle von Humor. »Um Himmels willen, klar sind gestern Nacht ein paar schräge Sachen passiert, aber du wirst nicht sterben, Louis. Warum solltest du sterben? Warum sagst du so was?«

       »Weiß nicht, ich … ich kann es nicht erklären, aber hier sind Dinge im Gange, die mir gar nicht gefallen … Ich weiß, es klingt bescheuert, aber letzte Nacht musste ich mich einfach schlafen legen, obwohl … ich weiß, es macht keinen Sinn, aber ich wollte nicht schlafen, ich hatte Angst davor, zu schlafen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte mich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle.«

       Seth wusste genau, was er meinte, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er konnte nur nicken.