»Es war eben eine stressige Situation, mit Christy und so. Manchmal stellt der Stress mit einem komische Dinge an, er kann sogar die Wahrnehmung verändern. Und dann haben wir letzte Nacht auch noch getrunken … haben wir doch, oder?«
»Ja, aber … ich fühle mich nicht mehr wie vorher, ich fühle mich anders.«
»Wie denn anders?«
»Wieder wie ich selbst, schätze ich.« Er schob seine Hände an seinem Gesicht hinauf, bis sie durch seine Haare fuhren. »Nur anders.«
»Es gibt eine vernünftige Erklärung für das, was passiert ist. Die muss es geben. Denk' doch mal drüber nach. Die Sichtweite war so gut wie null, er hätte drei Meter vor uns stehen können, und wir hätten ihn nicht gesehen.« Er trat näher heran und legte eine Hand auf Louis' Schulter. »Alles ist in Ordnung. Okay?«
Louis nickte, aber Seth wusste genau, dass er ihm nicht eine Sekunde lang glaubte. Und das konnte er ihm nicht einmal verübeln, denn Seth glaubte sich selbst nicht. Irgendetwas war falsch. Er konnte es tief in seinem Inneren fühlen, etwas ganz Schlimmes war im Gange. Wie ein Virus, das man noch nicht entdeckt hatte, wuchs es im Verborgenen – es gewann an Stärke und fraß sie von innen auf. Er spürte es, ein komisches, dunkles und einsames Gefühl, eine leise Ahnung von blankem Horror. Er wünschte sich inzwischen, sie wären nie hierher gekommen; in diesen Wald und diese unschuldig wirkende Hütte, denn sie würden alle sterben. Vielleicht waren sie sogar schon gestorben, auf eine gewisse Art.
TEIL ZWEI
SCHLÄFER
»Ich fürchte mich vor diesem dunklen Ding,
das in mir schläft.
Jeden Tag fühle ich seine weichen, federnden Umtriebe,
seine Boshaftigkeit.«
- Sylvia Plath, ELM
KAPITEL 3
Als die Sonne untergegangen war, thronte der Himmel über den Bäumen; eine endlose Leinwand, bemalt in riesigen Pinselstrichen von Dunkelblau und Schwarz. Inmitten des langsam absterbenden Lichtes saß der Mond weit oben, wie ein hastig hingehängtes Ornament. Bis auf den langsam einsetzenden, leichten Schneefall war alles ruhig.
Er beobachtete sie eine Weile, wobei er darauf achtete, sich nicht zu früh zu verraten.
Sie lag am Rande des Waldes auf der Seite, ihr Kopf auf den Ellenbogen gestützt, ihr Gesicht dem Himmel zugewandt. Der Schnee wurde etwas stärker, wurde zu einem hektischen Durcheinander, aber sie schien das nicht zu bemerken. Abwesend blinzelte sie Flocke um Flocke hinfort, während sie sorgenvoll nach oben schaute. Es schien, als sah sie alles – und nichts.
»Wo sind sie?«, fragte er sanft, immer noch in den Schatten hinter ihr verborgen. Als sie nicht antwortete, fragte er erneut, diesmal etwas nachdrücklicher: »Christy, wo sind sie?« Wie viele Dinge hier schien sie ihm gleichzeitig seltsam vertraut und doch völlig fremd. Er machte einen Schritt nach vorne und erlaubte so dem Mondlicht, ihn zu berühren. »Wo sind sie?«
»Was glaubst du, wo sie sind?«
»Wo ist mein Bruder, Christy? Wo sind die anderen?«
»Sie sind nicht mehr da. Sie wurden abgeholt.« Diesmal drehte sie ihren Kopf und sah ihn über die Schulter an.
Ihr Gesichtsausdruck war möglicherweise der traurigste, den er je gesehen hatte. »Abgeholt? Wer hat sie abgeholt, Christy?«
»Die Nacht.«
***
Er blickte über die endlosen Weiten des Waldes, fühlte das Pochen in seinen Schläfen und das folgende warme Tröpfeln. Obwohl er bereits wusste, was es war, hob er langsam die Hand zur Nase und berührte sie mit einem Finger, den er dann von seinem Gesicht weghielt, um es sehen zu können: Blut. Es lief zu seiner Oberlippe, wo es die Form seines Mundes umspielte. Er schmeckte die Bitterkeit in seinem Rachen, schluckte und erstickte fast daran.
Wie immer merkte er daran, dass er einen Albtraum hatte, oder so etwas Ähnliches wie einen Albtraum.
Die Schreie von der anderen Seite des Waldes zogen ihn wieder in die Traumlandschaft hinein, aber jetzt fiel er plötzlich und entfernte sich schnell. Er konnte spüren, wie er in die Tiefe hinabstürzte, als wäre er versehentlich in ein Loch gefallen. Das Licht über ihm wurde immer kleiner, und je tiefer er fiel, um so dunkler wurde es.
Sein Fall endete geräuschlos und in totaler Finsternis, wie immer. Aber dann kam Licht von oben, als läge er am Grunde eines Brunnens. Nur, dass er nicht in einem Brunnen war. Er lag auf einer Art Tisch, festgebunden mit dicken, braunen Lederriemen. In den Randbereichen seines Blickfeldes konnte er alte, rostige Gerätschaften erkennen. Die Schreie kehrten zurück, aber diesmal stieß er sie aus. Er kämpfte mit aller Kraft gegen das an, was dort unten war, was ihn dort gefangen hielt, und was – zusammen mit seinen Fesseln – eine Flucht unmöglich machte.
»Ist das die Hölle?«, flüsterte er, oder vielleicht jemand anderes. Etwas streifte ihn und rutschte dann auf seinen Kopf. Der Druck nahm zu, als es seine Stirn nach unten drückte, wobei es fast seine Augen bedeckte. Kalt, hart und metallisch war es – ihm wurde klar, dass eine der Vorrichtungen gewaltsam an seinem Kopf angebracht wurde.
Was – was passiert hier? Was macht ihr mit mir? Er wollte diese Worte sagen, schaffte es aber nur, sie zu denken, während er ununterbrochen schrie. Unsichtbare Hände begannen, rostige Schrauben anzuziehen, die in sein Kopfteil gesteckt worden waren und sich nun links und rechts von seinen Schläfen befanden. Als seine Schreie zu einem Wimmern verstummten, hörte er das Quietschen, das Schleifen von Metall auf Metall. Die Schrauben wurden enger, die Spannung in seiner Stirn nahm mehr und mehr zu, bis das Metall schließlich seine Haut durchbohrte und schmerzhaft gegen den Knochen drückte.
Warum tut ihr mir das an? Er hörte das Geräusch von brechenden Knochen, bevor die Schmerzen ihn durchbohrten, sie stachen von seinen Schläfen in den Kiefer, die Zähne und seinen Nacken. Der Druck stieg unbarmherzig weiter an, bis er spürte, wie seine Augäpfel in ihren Höhlen zusammengedrückt wurden und schließlich aufrissen. Mit den Randbereichen seines Bewusstseins zwang er das, was von seinen Augen übrig war, nach oben zu blicken, auf die Öffnung weit über ihm, auf das kleine Licht, das dort zu sehen war. Neben Schweiß und Blut spürte er noch etwas anderes an seinem Körper herunterlaufen. Regen? Konnte Regen ihn hier unten erreichen? Seine Sicht wurde unscharf, wieder klar, wieder unscharf und noch einmal klar. Ein Gesicht starrte auf ihn herab, über die Öffnung gebeugt. Er versuchte, den Schmerz und das Schwindelgefühl zu überwinden und besser zu fokussieren, aber das Gesicht blieb immer gleich: Es war nur eine Ansammlung von Narben und offenen Wunden in blutig aufgekratztem Fleisch, unfertig, verstümmelt und geschunden. Trotzdem grinste es wie ein geistig zurückgebliebenes Kind. Der Mund des Wesens öffnete sich, und es übergab sich; das dickflüssige, faulige Sekret kam heruntergeschossen und bedeckte die Wände und den Boden um ihn herum. Und dann kehrte die Stille zurück, die von absoluter Finsternis begleitet wurde. Bis zu dem Moment, der wie immer die nächste Phase einläutete. Das Mietshaus, in dem er seit kurzer Zeit wohnte, war ein düsteres, heruntergekommenes Gebäude, die Art von schäbiger Absteige, die er sich gerade so leisten konnte, während er bei einem Diner in der Nähe die Teller spülte. Es war so ein Laden, bei dem keiner wusste oder sich drum scherte, wer er war; keiner stellte Fragen, keiner sprach ihn an, ohne dass er zuerst etwas gesagt hatte, und die Welt nahm einfach keine Notiz von ihm. Ein sicherer Ort, um sich zu verstecken, dachte er, zumindest für den Moment. Die Detailtreue war jedenfalls bemerkenswert; das Zimmer war eine exakte Kopie der Realität, und hätte er diesen Traum nicht schon so oft gehabt, würde er schwören können, wach zu sein. Aber er wusste es besser. Wie er so im Bett lag, wobei ihm die Federn der ausgeleierten Matratze in den Rücken pikten, ließ er seinen Blick ruhig durch das Zimmer gleiten. Es war kurz vor Morgengrauen, und das einzige Licht, das in das Zimmer fiel, kam aus den Ritzen einer heruntergezogenen Jalousie. Trotzdem konnte er sehen, dass er nicht alleine war. Eine menschenähnliche Gestalt kauerte auf der Ecke eines alten Sekretärs, die Haltung erinnerte ihn an einen riesigen Raubvogel. Die Kreatur starrte ihn mit berechnendem Schweigen an. Sie war nackt und hatte keine