Das Licht ist hier viel heller. Mareike Fallwickl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mareike Fallwickl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022747
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      Im Wohnzimmer ist alles weiß. Als ich ein Kind war, war das Haus gemütlich, mit viel altem Holz und wuchtigen Schränken, so groß, dass man sich verstecken konnte darin. Oft haben Spin und ich uns gemeinsam hineingezwängt, die Hände auf den Mündern, um nicht zu kichern, aneinandergedrängt in der Enge, die Muffigkeit hat sich mit dem Sonnenmilchgeruch unserer Haut vermischt, während Barbara nach uns gesucht hat. Später hat Mama auf Instagram gesehen, dass die Trendsetter dieser Welt es clean haben. Und da Spin und ich groß genug waren, um nicht mehr mit Schokoladenfingern alles zu beschmieren, hat sie unser geliebtes durchgesessenes Riesensofa gegen eine cremefarbene eckige Rauledergarnitur getauscht, in einem so merkwürdigen Format, dass man darauf weder bequem sitzen noch liegen kann, hat die Schränke rausreißen und weiß gestrichene Regale aufstellen lassen, in denen keine Bücher stehen, sondern silberne Schalen, die leer sind, und Figuren, bei denen man nicht erahnen kann, wo oben und wo unten ist. Die einzige Farbe in diesem Raum ist helles Türkis, als feines Muster auf den Dekokissen. Dann hat sie das restliche Haus umgestaltet, weil es nicht mehr zum Wohnzimmer passte, und niemand von uns wurde gefragt. Ich hatte die Sommer meiner Kindheit hier verbracht, mit Spin und Barbara, in einer endlosen Abfolge aus flirrendem Sonnenlicht, Wassermelone und träger Stille, das alles ist fort.

      Ich habe gelesen, dass man in Finnland in einem Iglu aus Glas liegen kann, um die Polarlichter zu sehen. Im Kakslauttanen Arctic Resort in irgendeinem kleinen finnischen Ort oder vielleicht mitten im Wald stehen halbkugelförmige Glashäubchen, in denen man zweihundert Tage im Jahr den besten Blick in den von Farben durchschossenen Himmel hat. Angeblich ist das Glas frostsicher, und man schläft in Thermokleidung. Seit ich das weiß, starre ich manchmal nachts auf die Zimmerdecke, an der es kein einziges buntes Licht gibt, und frage mich, warum ich hier bin und nicht dort. Ich stelle mir vor, dass ich allein wäre, umgeben von Dunkelheit und Schnee und Ereignislosigkeit. Ich könnte mir die Polarlichter anschauen, sonst nichts, ich müsste mit niemandem sprechen.

      »Stefan sucht dich«, sagt Spin und legt mir die Hand auf die Schulter.

      Der Körperkontakt mit Spin ist in Ordnung. Das sind Berührungen, die an der richtigen Stelle ankommen und nicht zu lange dauern.

      »Ach«, mache ich.

      »Der arme Kerl irrt seit einer Stunde herum und findet dich nicht.«

      »Ach«, mache ich wieder.

      Spin schmunzelt.

      »Jetzt ist niemand oben«, sagt er, »wir könnten die Bücher verstecken.«

      Wir gehen die Treppe hinauf. Mein Zimmer, Spins Zimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, ein drittes Bad, noch ein Gästezimmer und Papas Bibliothek. Während Mamas Umgestaltung haben sie darüber am meisten gestritten. Mama wollte die alten Bücher loswerden, »etwas Kreatives« mit dem Raum machen, und Papa wehrte sich.

      »Dass hier die großartigsten Geschichten der Weltliteratur versammelt sind, ist ja wohl kreativ genug!«, tobte er.

      Um die anderen Räume scherte er sich nicht, er hielt sich ohnehin fast nie am Wolfgangsee auf, auch nicht, als wir noch Kinder waren. Er erwähnte die Villa nur beiläufig in seinen Gesprächen, und ebenso beiläufig besuchte er sie auch. Aber seine Sammlung war ihm heilig.

      »Da sind wertvolle Stücke dabei!«, hat er geschrien. »Du bist so eine Ignorantin, man sollte dir den Studienabschluss aberkennen!«

      Nach der Scheidung haben sie vereinbart, dass er die Bücher abholen und einlagern lässt, weil er in der neuen Wohnung keinen Platz dafür hat. Das ist noch nicht geschehen, sie stehen alle da in der Dunkelheit. Von unten dringt die Musik herauf, der Bass ein dumpfes Wummern. Ich streiche über die geprägten Lederbuchrücken. Schöne Ausgaben der Klassiker, Moby Dick, Ulysses, weiter drüben Hundert Jahre Einsamkeit und Faust. Eine Ordnung kann ich nicht erkennen, das konnte ich noch nie, er hat sie weder nach Alphabet noch nach Erscheinungsjahr oder Herkunftsland des Autors sortiert. Vielleicht nach Wert? In einem separaten kleineren Regal stehen seine eigenen Bücher, in der obersten Reihe die Erstausgaben aller vierzehn Romane. Zwei davon, Blut und Siebenstadt, sind signiert für Mama, die hat er ihr geschenkt, als sie sich kennengelernt haben. Für meine schöne Helena, steht in dem einen, ich würde jedes Pferd besteigen für dich, und ich weiß nicht, ob er auf den Trojanischen Krieg anspielte, um ihr zu schmeicheln, oder ob etwas Sexuelles dahintersteckt, und igitt. Liebe war’s, als ich dich sah, Liebe ist’s geblieben, steht im anderen. Jetzt ist die Liebe halt weg. Ich kenne die Widmungen auswendig, habe sie wieder und wieder angeschaut in jenen Sommern, mich vergraben im halbdunklen Zimmer. Auf der Suche nach Schatten, vielleicht auch auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich Papa zu nähern, ihn zu finden, hier, zwischen dem Zauberberg und Im Westen nichts Neues.

      Spin und ich stapeln wahllos Titel aufeinander und tragen sie in mein Zimmer, wo wir sie unter das Bett schieben. Es ist das dümmste Versteck, aber ich bin mir sicher, dass niemand dort nachsehen wird. Ich nehme die Bücher, von denen ich weiß, dass sie signiert sind, und die, von denen ich denke, dass sie am meisten Geld bringen würden. Zum Schluss die zwei Romane, die Papa Mama geschenkt hat. Als wir fertig sind, grinsen wir uns an.

      An meinem ersten Schultag am Gymnasium hat Papa mich bis zur Tür gebracht.

      »Hineingehen kannst du ja ohne mich, oder?«, hat er gefragt, und ich habe genickt, elf Jahre alt und verstummt angesichts des großen Gebäudes, in das so viele Kinder strömten, von denen ich keines kannte. Wie sollte ich überhaupt meine Klasse finden?

      »Gut«, hat Papa gesagt und in seine Jackentasche gegriffen auf der Suche nach seinen Zigaretten, er hatte gerade aufgehört zu rauchen, mal wieder, bloß waren seine Hände schneller als sein Gehirn.

      Ich musste ohne Spin auf diese neue Schule gehen, erst ein Jahr später würde er mir folgen, ich musste allein mit dem Bus fahren jeden Morgen und mittags auch, und beim Gedanken daran, nicht mehr mit ihm gemeinsam zu Fuß zu gehen wie bisher zur Volksschule, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich hatte das gemocht, besonders im Winter, wenn es morgens noch finster war und unsere Schritte im frischen Schnee den Eindruck erweckten, es gäbe nur uns beide.

      »Heul doch nicht«, brummte Papa, und es hätte wohl gutmütig klingen sollen, aber er sah sich dabei mit diesem entschuldigenden Lächeln um, als wäre es ihm peinlich.

      Ich hoffte, dass ich den richtigen Rucksack ausgesucht hatte und die richtigen Schuhe, das waren in den ersten Tagen die wichtigsten Dinge. Man konnte nie genau wissen, was gerade in oder wieder out war, besonders direkt nach den Ferien war das schwierig. Weil man da die Outfits der anderen ja noch nicht gesehen hatte, die Marken, die sie trugen, weil man nicht ahnte, ob sie neue Ausdrücke verwendeten, die man selbst erst einmal würde googeln müssen, um mitreden zu können. Ein Minenfeld, und ich hatte nur ein kleines Zeitfenster, dann wäre meine Rolle in der Klasse festgelegt für immer.

      »Setz dich neben ein Mädel, das nett aussieht«, sagte Papa, »konzentrier dich auf die Lehrer, lass dich nicht ablenken und mach deine Aufgaben. Dann klappt das schon.«

      Ich sagte nichts, er hatte halt einfach keine Ahnung.

      »Du musst dir Mühe geben, es fliegt einem im Leben nichts zu«, er fuhr noch mal mit nervösen Fingern in seine Taschen, fluchte dabei leise, »besonders dir als Mädchen nicht. Du musst dich doppelt anstrengen, hast du gehört? Die Welt ist nicht gemacht für euch.«

      Ich hatte gehört, verstand aber nicht, was er meinte.

      »Hübsch bist du ja«, sagte er, »nur wird das nicht genügen, wenn was werden soll aus dir.«

      Er wuschelte mir durchs Haar, schaute erschrocken und versuchte dann, meine Locken wieder in Form zu bringen. Für einen Moment ließ er die Hand auf meiner Wange, sie war trocken und warm. Er zog mich in eine Umarmung, die eigentlich keine war, weil er mich gleichzeitig auf Abstand hielt. Er roch nach Aftershave und Ungeduld.

      »Ich hol dich nachher wieder ab, okay«, sagte er, »wir gehen Eis essen. Zur Feier des Tages.«

      Als die Schule aus war, war Papa nicht da. Er hatte mich vergessen, aber das überraschte mich nicht. Ich hatte mir schon in der ersten Pause aus dem Ordner