Das Licht ist hier viel heller. Mareike Fallwickl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mareike Fallwickl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022747
Скачать книгу
um den sich keiner mehr schert, hat noch Hunger.

      »Ich mag keinen Sellerie«, sagt Wenger.

      Elisabeth packt die leeren Tupperdosen ein, die in der Küche rumstehen, er hat sie nicht mal abgewaschen. Sie kommt ihm entgegen, schnauft erschöpft. Er sollte ihr einen Kaffee anbieten, sie fragen, ob sie sich setzen will. Er sollte mit ihr reden. Bevor Patrizia ihn rausgeworfen hat, hat er einmal in der Woche mit seiner Schwester telefoniert, und das sogar gern. Am Telefon funktionierte ihre Beziehung, meistens rief er sie aus dem Auto an, erzählte, wohin er gerade fuhr, was er dort tun würde, hörte sich die Geschichten über die Jugendlichen in ihren Klassen an, die ständig was beschädigen, weil sie selber so kaputt sind. Aber wenn sie ihm gegenübersteht, kommen nur Bosheiten heraus aus ihm, weil er permanent Angst hat, dass sie herkommt und ihn in die Arme nimmt, und dann.

      »Nächstes Mal back ich dir Palatschinken, die kannst du als Frittaten essen«, sagt sie und lächelt wieder, »dazu mach ich dir eine gute Rindssuppe.«

      Wenger schaut auf ihren üppigen Busen in dem hellblauen Strickkleid. Dick ist Elisabeth nicht, aber dünn auch nicht. Eine hübsche Frau Ende fünfzig, er versteht nicht, warum sie keinen Mann gefunden hat. Sie ist gebildet und kann kochen, eine von den Guten, die einem nicht von einem Konkurrenten ausgespannt wird, weil es gar keine Konkurrenz gibt, die einem treu bleibt bis zum Tod. An ihren Zähnen ist ein bisschen Lippenstift. Als Wenger das sieht, rührt es ihn, und diese Rührung macht ihn aggressiv.

      »Bin ich dein neues Betreuungsobjekt?«, giftet er. »Oder dein Ersatzkind, weil du keins kriegen hast können?«

      Für einen Augenblick zuckt ein alter Schmerz durch ihre Augen, und ihm ist klar, dass er sie dort getroffen hat, wo er sie treffen wollte. Gut fühlt es sich trotzdem nicht an.

      »Du bist mein Bruder«, sagt sie.

      »Du tust, als wär ich ein halbverrecktes Tier, das du aufpäppeln musst, weil es sich was gebrochen hat.«

      »Dein Herz ist gebrochen«, entgegnet sie ohne Ironie.

      Wenger macht ein ächzendes Geräusch. Er hat nicht gefrühstückt, und jetzt ist er betrunken. Er möchte sich hinsetzen und das Gesicht in die Hände legen, doch es besteht die Gefahr, dass er dann anfängt zu weinen.

      »Das freut dich doch«, zischt er. »Endlich bin ich wieder der Schwächere, der dich braucht.«

      Elisabeth zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen, als könnte sie seine Worte abschütteln. Sie greift nach ihrem Mantel und schlüpft hinein.

      »Jetzt stehst du nicht länger in meinem Schatten«, setzt er hinzu, in der Hoffnung, dass sie mit ihm zu streiten anfängt. Er würde sehr gern streiten, herumschreien, die Tür hinter ihr zuknallen, Dampf ablassen, diese hitzige Leere spüren, in die sich sofort ein bisschen Reue mischt, nachher.

      »Weil ich nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens bin«, macht er weiter und findet das Wortspiel recht gelungen, aber er merkt, dass Elisabeth seine Provokationen abprallen lässt an ihrer Fettschicht, an ihrer Gutmütigkeit, ihrer Nachsicht.

      »Ich hab’s eilig«, sagt sie, »beim alten Steiner schaut’s nicht gut aus. Ich fahr zu ihm, damit wer da ist, wenn er stirbt.«

      Wenger bleibt der Mund offen stehen, die Gehässigkeiten fallen ihm ungesagt von der Zunge. Jetzt hat sie den Streit gewonnen, ohne überhaupt gestritten zu haben. Im Vorbeigehen tätschelt sie seinen nackten Oberarm, die Berührung fühlt sich rau an. Er würde gern wissen, ob sie noch so riecht wie früher.

      Die Tür fällt ins Schloss.

      Wenger zieht seine Hose an, kratzt an dem eingetrockneten Fleck. Es ist sehr still. Er setzt sich aufs Sofa, der Stapel mit der Post fängt an zu rutschen, die Prospekte gleiten auf den Boden. Wenger sieht zu, versucht nicht, sie aufzuhalten. Obenauf liegt ein kleiner weißer Umschlag mit Handschrift. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe? Wenger nimmt ihn, dreht ihn um. Es steht kein Absender darauf, adressiert ist er an Albert Trattner. Das ist der Kerl, der vor ihm hier gewohnt hat. Wenger sieht sich um, als würde er beobachtet, reißt den Brief dann auf. Das Ratschen ist laut wie ein Vorwurf, und Wenger weiß, dass er nicht tun sollte, was er da tut. Die Post eines anderen zu lesen sollte man sich zweimal überlegen, man weiß ja nie, was einen da erwartet. Wenger ist so alt, dass ein Brief noch Bedeutung hat für ihn, weil es ein echtes Schriftstück ist, in das jemand Worte eingewebt hat und das Tage gebraucht hat statt Sekunden, um anzukommen. Aber die Neugier siegt über den Respekt. Zwei einzelne Blätter. Die Schrift ist gleichmäßig, leicht nach rechts geneigt, an manchen Stellen seltsam verschoben, als hätte die Hand gezittert. Er sieht ans Ende, es gibt keine Unterschrift. Dann liest er die Zeilen, und ein Gewicht legt sich auf seine Brust, drückt ihm auf die Haut und auf die Rippen, bis er kaum noch Luft bekommt. Er ist zu überrascht, um sich zu schützen. Es zerrt in ihm, genau dort, wo die Menschen ungern hinschauen, weil sie da nicht sehr schön sind. Als er den Brief sinken lässt, kann er vor Erregung nur langsam und flach atmen. Es ist absurd und merkwürdig, vielleicht sogar bedenklich, aber jetzt steht er, sein Schwanz. Jetzt steht er.

       März 2017

       Erinnerst du dich, dass Worte scharf sein können wie Messer? Weißt du noch um ihre Macht, um diese Schlingen, die sich auf dich legen, mit Eisenspitzen, die dir die Haut aufbrechen und die Knochen? Ich will eine Schlinge sein, ich will ein Messer sein, in Eisen gegossene Unbarmherzigkeit. Ich will dich aufbrechen, ich habe zu lange geschwiegen. Öffne deine Augen. Schau her. Schau nicht mehr weg. Jetzt ist die Stunde für meine Worte. Jetzt ist die Stunde für meine Rache.

       Inzwischen bist du alt. Du hast mehr als die Hälfte der Zeit verlebt, die dir gegeben ist. Du hast manche Chancen genutzt, andere übersehen. Du hast Kinder bekommen, ein Haus gebaut, gearbeitet, geschlafen, gegessen, selten getanzt, ins Leere gestarrt mit dem Zweifel im Kopf, ob das alles war. Bin ich dir jemals nah genug gekommen, um einen Abdruck zu hinterlassen? Denkst du noch an mich, plagt dich das Gewissen, fragst du dich, was mit mir geschehen ist?

       Ich hab dich geliebt, lass mich das einmal aufschreiben. Lass mich alles einmal aufschreiben. Ich schreibe es weg von mir, raus aus mir, runter von mir. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder sauber. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder.

       Ich habe Angst vor dem Moment, in dem ich abends den Kopf niederlege. Ich fürchte mich nicht vor dem Aufwachen, auch nicht vor dem Tag mit all den Stunden, die sich vor mir auftürmen. Sie lassen sich füllen, und solange ich mich bewege, mich mit Menschen umgebe und ihnen zuschaue, gelangt keine Empfindung zu mir. Ich kann durch die Gassen schlendern, ich kann in einem Café sitzen und leise lächeln, ich kann aufs Meer schauen und mir vorstellen, wie salziges Wasser in meine Lunge dringt. Aber nachts bin ich verloren, mein Segel zerreißt. Sobald mein Kopf das Kissen berührt, fließt alles aus ihm heraus. Wie silbernes, mit einer Flüssigkeit verrührtes Pulver, Blut ist es nicht, oder vielleicht doch. Es rinnt an mir herunter, es ist kalt, und wo es mit meiner Haut in Kontakt kommt, hinterlässt es Wunden, wie Gefrierbrand. Jeden Abend atme ich voller Furcht in dieser Stadt, in der ich nicht zuhause bin, und wage nicht, mich zu rühren, denn dann würde ich das Silberne verteilen, immer weiter verteilen. Ich habe keinen Einfluss auf die Bilder, die mein Kopf hineinprojiziert in die Dunkelheit.

       Ich sehe, was sie getan haben.

       Ich warte auf den Schlaf. Er ist nicht mein Gegner, aber auch nicht mein Freund, und mit den Menschen ist es nicht anders. Ich habe nie zu den Frauen gehört, die sich Sprachlernkalender in die Küche hängen und glauben, eines Tages müssten sie nicht mehr dort stehen und Rindfleisch schneiden, eines Tages würde das wahre Leben kommen und sie abholen. Jetzt ist es eine ganz andere Art von Frauen, zu denen ich gehöre.

       Was bleibt von einem Menschen, wenn man ihm alles nimmt, seine Sprache, seine Umgebung, seine Gewohnheiten, sein Selbstverständnis, wer ist er dann, zurückgeworfen auf sich selbst? Das Licht ist hier viel heller, obwohl das Meer es gierig verschluckt.

       Bis zu meinen Zähnen ist mein Mund angefüllt mit Wut.