Das Licht ist hier viel heller. Mareike Fallwickl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mareike Fallwickl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022747
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wegen der Gefühlsduseleien, überfordert von der Situation, heimlich auf der Suche nach einer besonders Trostbedürftigen, mit der nach dem Leichenschmaus noch was geht. Wenger sieht sie vor sich, die Trauergemeinde, die Reporter und Kameras. Die früheren Freunde und die Möchtegerns, die ihn nicht persönlich gekannt haben, die sich bloß im Glanz seines Namens sonnen wollen. Die Menschen lieben es, wenn einer stirbt, auf den sie neidisch waren.

      Wenger denkt über die Musik nach, die gespielt werden soll, während sein Sarg in die Erde rumpelt, das würde nicht leise gehen, nein, mit einem ratschenden, vorwurfsvollen Geräusch würde er ins Grab fallen. Vielleicht Hateful von The Clash. Oder Electric Funeral von Black Sabbath. Patrizia würde sich ärgern über derart Pietätloses, aber sie könnte es ihm nicht mehr reinwürgen. Das letzte Wort hätte er.

      Mit besonderem Genuss stellt er sich die Schlagzeilen vor. Einsam und vergessen: Starautor schreibt sein eigenes Ende! Fette schwarze Lettern, daneben das Foto, auf dem er Mitte dreißig war, diesen Wahnsinnserfolg hatte und noch alle Haare. In seiner Fantasie schafft er es auf die Titelseiten der großen Zeitungen, im Internet wird sein Name in jede Timeline gespült, und die Verkaufszahlen seiner Bücher schießen noch mal in die Höhe. Ein kleiner zusätzlicher Nachlass für seine Kinder.

      Das wäre ein Abgang mit Verve, ein selbstgewähltes Schlussmachen, kein langsames Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. In der er sonst sitzen würde, später, mit weißem Haar und verknöcherten Fingern, von seinen Romanen brabbelnd, verlacht von seinen Enkeln, die ihm erklären: »Opa, Bücher! Haben wir im Museum gesehen. Krass sinnlos, diese schweren Klumpen aus toten Bäumen.«

      Woher weiß man im Leben, wann es Zeit ist zu gehen, wann man aufhören kann zu warten, weil nichts mehr kommen wird außer ein ewiges Zurückschauen?

      Wenger nimmt einen großen Schluck, starrt die Umzugskartons an. Er hat keine Ahnung, in welchem davon seine Bücher sind.

      Die Wohnung ist zu klein, eigentlich, trotzdem fühlt er sich verloren darin, er findet kein angenehmes Verhältnis zu den Räumen, aber das ist jetzt überall so, ganz egal, wo er ist. Das hat damit zu tun, dass keiner mehr da ist, der den Platz mit ihm teilt, seine Kinder nicht und Patrizia erst recht nicht. Eine Couch hat er und ein Bett, in der Küche einen Tisch und einen einzelnen Stuhl. Der Fernseher steht auf dem Boden, Wenger muss hinunterschauen, wenn er auf dem Sofa sitzt, er bekommt davon Nackenschmerzen, aber allein der Gedanke an Schrauben und eine Bohrmaschine ermüdet ihn derart, dass er den Kopf sowieso nicht mehr heben kann.

      Er steht da und fühlt nichts.

      Da hört er den Schlüssel in der Tür, schon kommt Elisabeth herein. Eine Wolke aus rot gefärbtem Haar, Tropfen aus Schnee darin, konzentrierte Fröhlichkeit.

      »Naaa«, ruft sie munter, »geht’s dir gut?«

      Sie bringt kalte Luft, zwei Einkaufstaschen und ein Lächeln mit, das Wenger ihr aus dem Gesicht boxen möchte.

      »Du schon wieder«, raunzt er sie an.

      Ihrem Grinsen kann sein Grant nichts anhaben, er weiß, sie hat damit gerechnet. Sie ist gewillt, seine üble Laune zu ertragen, und das ärgert ihn noch mehr. Wenger sehnt sich jetzt sehr nach seiner Hose. Aber sie vor seiner Schwester anzuziehen, wäre ein falsches Statement. Sie würde lachen und »Ist doch nix, was ich nicht schon mal gesehen hätt« sagen, und dann stünde so vieles im Raum. Dass sie nackt gemeinsam gebadet haben, als sie noch Kinder waren, dass eine derartige Intimität bei erwachsenen Geschwistern nicht angebracht ist, aber auch, dass Elisabeth keinen Mann hat, bei dem sie hinschauen könnte. Und Wenger erträgt all das Ungesagte nicht, da kann man ja kaum noch atmen, wenn einem die Luft so abgeschnürt wird von dem, was man nicht fühlen will.

      Sie wedelt mit einem Packen Post in der Luft herum, sieht sich nach einem Platz um, wo sie ihn hinlegen könnte.

      »Hab ich aus deinem Briefkasten geholt«, sagt sie und schält sich aus dem Wintermantel. »Steht aber noch der alte Name drauf.«

      Die Post legt sie auf den wachsenden Haufen aus Werbeprospekten und Zuschriften, den Wenger sich noch kein einziges Mal angeschaut hat. Wozu auch, nichts davon kann an ihn adressiert sein, er hat das Namensschild auf dem Briefkasten nicht ausgetauscht. Denn was taugt ein Versteck, wenn man außen hinschreibt: Hier bin ich?

      »Weiß ich«, entgegnet er, »lass das so.«

      Seine Schwester zuckt mit den Achseln und fragt nicht nach.

      »Das ist nur für den Übergang«, hat er am Anfang gesagt, und geglaubt hat er es auch.

      Nur ist es inzwischen so wie fast immer im Leben, dass der Übergang länger dauert als geplant und irgendwie nicht mehr aufhört.

      Wenger trinkt seinen Gin Tonic mit einem Schluck aus.

      »Um die Uhrzeit?«, fragt Elisabeth und runzelt die Stirn.

      Wenger seufzt. Es ist nicht leicht, ein unverfängliches Gespräch zu führen, wenn man soeben noch drüber nachgedacht hat, sich umzubringen.

      »Du solltest auch was trinken, dann wärst du entspannter«, sagt er.

      Elisabeth reagiert nicht, nur die Runzeln auf ihrer Stirn werden tiefer. Ein einziges Stirnrunzeln, die Frau. Und dazu dieser pseudooffene Ich-verurteile-dich-nicht-Blick. Drei Jahre älter ist seine Schwester, und vielleicht erklärt dieser Altersunterschied das Mütterliche, das sie ihm gegenüber hat. Oder vielleicht liegt die Erklärung darin, dass ihre Mutter ihnen keine Mutter war. Es stimmt, Wenger hat Elisabeth gebraucht. Als er klein war, hat er sie gebraucht. Sie hat ihn umsorgt, ihm bei den Hausaufgaben geholfen und sich Geschichten ausgedacht für ihn, wenn er zu ihr ins Bett gekrochen ist. Sie hat geflüstert, ganz nah an seinem Ohr, um das Geschrei der Eltern im Wohnzimmer zu übertönen. Eigentlich hätte sie Schriftstellerin werden sollen, nicht er. Und Kinder hätte auch sie kriegen sollen.

      Aber das ist bald fünfzig Jahre her. Jetzt hat er das Bemuttern satt. Sich zugrunde richten kann er allein. Es stört, wenn man mitten im Zugrunderichten steckt und dauernd jemand kommt, der einen aus dem Sumpf ziehen will.

      Elisabeth schleppt die Einkaufstaschen in die Küche, er hilft ihr nicht. Er gibt ihr auch kein Geld, obwohl er davon wesentlich mehr hat als sie, schließlich arbeitet sie als Integrationslehrerin, und er kann sich nicht vorstellen, dass sie viel verdient. Nebenbei engagiert sie sich bei der Diakonie, ehrenamtlich. Sie muss sich halt irgendwie beschäftigen, die Tage sind lang und die Winter erst recht. Das Mütterliche ist ihr geblieben, ist zu ihrem vordersten Wesenszug geworden. Irgendwann entwickelt man keine neuen Fähigkeiten mehr, da muss man mit denen arbeiten, die man hat. Trotzdem hofft Wenger, dass Elisabeth bald das Geld ausgeht und der Wille, ihm zu helfen, auch. Er kann schlecht umgehen mit dieser Art der Zuwendung, hinter der so viel eigene Bedürftigkeit steckt.

      »Ich hab die Schokolade gekauft, die du so gernhast«, ruft sie aus der Küche, und sie bräuchte gar nicht zu schreien, die Wohnung ist ja nicht groß. Sie taucht im Türrahmen auf und wedelt mit zwei großen Nougattafeln. Immerzu wedelt sie mit irgendwas. Wenger gießt sich einen neuen Gin Tonic ein. Er sollte jetzt Danke sagen, sie wartet auf ein Danke, er sieht es an ihrem Gesicht. Sie schaut ihn so direkt an. Er nickt. Elisabeth legt ein Lächeln über ihre Enttäuschung. Das kann sie, das ist sie gewohnt. Das macht sie schon ihr ganzes Leben lang. Sie dreht sich um, packt weiter die Einkäufe aus.

      »Ich hab dir Gulasch gekocht«, ruft sie, »und Reisfleisch und Sellerieschaumsuppe. Ist wieder alles beschriftet.«

      Er hört, wie sie die Plastikbehälter in den Kühlschrank schiebt. Auf jedem klebt ein kleiner Zettel mit ihrer sorgfältigen, runden Schrift, manchmal malt sie kleine Herzen oder Smileys dazu, und dann schafft er es kaum, das Essen runterzuschlucken, weil so viel in ihm aufsteigt. Sie hat aufgehört, ihm frische Zutaten zu kaufen, nachdem er alles vergammeln hat lassen. In den ersten zwei Wochen hat sie die verschimmelten Tomaten und Karotten entsorgt und die Nase über den McDonald’s-Schachteln gerümpft, dann ist sie dazu übergegangen, ihm fertige Mahlzeiten zu bringen.

      Und es ist unmöglich, die Gerichte nicht zu essen. Zum einen, weil Elisabeth eine fantastische Köchin ist, da kann kein labbriger Burger mithalten, zum anderen, weil der Hunger