Das Licht ist hier viel heller. Mareike Fallwickl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mareike Fallwickl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022747
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wird das entsorgen, und wie er sie kennt, wird sie sich nicht dazu äußern. Bestimmt ist sie schon auf seine jüngste Eskapade angesprochen worden, beim Metzger und nach dem Gottesdienst, die sind alle gierig nach Informationen über ihren Bruder, wahrscheinlich hat sie gelächelt und etwas Diplomatisches gesagt oder gar nichts. Er sieht sich in der stillen Wohnung um. Er bräuchte ein Radio, irgendwas, das die Geräuschlosigkeit durchbricht, und sei es nur mit pseudofröhlichem Gerede und Hitparadengedudel. Er schaltet den Fernseher ein, sieht aber gar nicht hin, er will bloß Stimmen hören, damit das Leise ihn nicht niederdrückt.

      Er schaut in den Kühlschrank. Elisabeth hat Frittaten gebracht und Rindssuppe, aufgeschnittene Semmelknödel, Geschnetzeltes mit Schwammerln und Grießkoch mit Kirschkompott. Die Wohnung hat sie auch geputzt, sogar die Fenster, aber bis die Kinder nächstes Wochenende zu ihm kommen, wird es nicht sauber bleiben. Wenger hofft, dass seine Schwester vorher noch mal den Wischer in die Hand nimmt. Die Mitleidsblicke von Spin und Zoey hat er nämlich satt. Und dass sie bei ihm herumhocken, auch. Weil sie sich sowieso nur langweilen. Weil sie auf seine freundlichen Fragen mit genervten Schnaufern antworten, untrennbar verbunden mit ihren leuchtenden Smartphones, und die Minuten zählen, bis sie wieder wegkönnen. Er versteht nicht, wieso sie überhaupt kommen, er hätte seinen Vater nicht besucht in dem Alter, ums Verrecken nicht. Er hätte sich ferngehalten von diesem geistig vertrockneten Fossil, wenn es noch gelebt hätte, und manchmal ist er fast ein wenig sauer auf den Alten, weil er ihm weggestorben ist, bevor er sich hat abwenden können von ihm.

      Die Jungen haben Partys und Gras und Knutschen im Kopf, und sollen sie, es ist ihr gutes Recht, es ist ihre Zeit. Die Zeit, in der es noch nicht gilt. In der sie ausprobieren können, experimentieren, alles kennenlernen, in erster Linie sich selbst, weil sie noch keine Rechnungen bezahlen müssen, keine Verantwortung haben, sich nicht entscheiden müssen für ein Studium, ein Lebensziel, einen Partner. Weil sie keine Kinder haben, die ihnen die Kraft aus den Knochen ziehen und die Lebensfreude und das Geld. Ihm wär es auch lieber, Zoey und Spin würden nicht jedes zweite Wochenende bei ihm rumlungern und ihm zu verstehen geben, wie scheiße sie es bei ihm finden.

      Finnegan, was für ein beschissener Name. Sie haben ihn selbst schnell verballhornt, Spinnigan haben sie ihn genannt, als er zwei Jahre alt war und ein spinnertes Trotzkind. Später, mit dreizehn, hat Finnegan sich diesen Spitznamen zu eigen gemacht, von dem Patrizia bei jeder Gelegenheit erzählte, lachend und ohne Rücksicht auf die Demütigung, die das für ihn bedeutete. Er nannte sich Spin, allerdings englisch ausgesprochen, mit s, nicht mit sch. Wenger fand das gut, Patrizia nicht. Finnegan ist gestraft mit seinem Namen. Und mit seiner Mutter.

      Sie wussten, dass es ein Junge werden würde, Wenger konnte sich nicht wehren gegen den archaischen Stolz beim Blick auf das Ultraschallfoto, auf den schwarz-weiß verpixelten Minipenis. Ein Sohn. Und dann mitten in diese Glückseligkeit hinein Patrizias Namensvorschlag. Er lachte sie aus, sie war beleidigt, der Streit zog sich über Tage.

      »Wer das Kind rauspresst«, schrie sie schließlich, »entscheidet über den Namen!«

      Wie sie dastand, mit ungewaschenen Haaren, der brüllenden Chloé auf dem Arm und dem sich wölbenden Bauch, gab Wenger sich geschlagen und dachte, man könnte ja Finn draus machen, das würde schon nicht so schlimm werden. Es war ihm, das würde er aber nie zugeben, einfach nicht wichtig genug. Und wer anerkennend lächelnd hinter dem Namen des Schriftstellersprösslings eine Anspielung auf Finnegans Wake vermutet, den lässt er in dem Glauben. Dabei hat Patrizia das Buch nicht einmal gelesen.

      Dennoch bemitleidet Wenger Chloé noch mehr. Sie wurde gleich im Kindergarten Klo genannt. Wie denn auch sonst, man braucht nicht mal Fantasie für diesen Spitznamen, er liegt auf dem Silbertablett. Später, in der Schule, lernte sie, dem Spott mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Noch vor ihrem Bruder kam sie auf die Idee, sich umzutaufen, stellte sich überall als Zoey vor, übte wochenlang ihre neue Unterschrift. Wenger griff das mit Erleichterung auf, sehr zum Unwillen von Patrizia. Aber er hat das Gefühl, als könnte er etwas wiedergutmachen, jedes Mal, wenn er seine Kinder Spin und Zoey nennt.

      Und eigentlich ist es doch eine schöne Idee, sich neu zu erfinden, sich selbst zu definieren. Nicht zu warten, bis man erwachsen ist und Psychopharmaka braucht, sondern schon als Teenie zu sagen, sorry, Leute, mein Name ist Dreck, den will ich nicht, ich denk mir einen anderen aus. Hätte man ja nicht durchgebracht in Wengers Jugend, als Horst oder Friedrich-Edgar, ausgelacht wär man worden, wahrscheinlich verdroschen. Aber heute geht das, jeder hat Nicknames, Usernames, ein formerly known as hier und ein Pseudonym dort. Be who you want to be.

      Die Presse gab Patrizia, als sie und Wenger zusammenkamen, den Namen Trixie, eine Abkürzung, eine Verballhornung, über die sie sich freute. Es klang märchenhaft in ihren Ohren, ein bisschen verrucht, vor allem war es besser als Manu oder Christl oder Gabi. Wenger fand, dass es sich tussig anhörte und kindisch, sehr nuttig. In seinen Augen passte das nicht zur Ehefrau eines angesehenen Schriftstellers. Doch als sie heirateten, liebten die Journalisten ihre Trixie bereits, und sie verkaufte ihre Hochzeitsfotos für einen Haufen Geld an die Kronen Zeitung.

      Interessant, dass sie eine Familie sind, in der niemand so heißen will, wie er nun mal heißt. Als wären sie alle lieber jemand anderes. Nur er nicht, Wenger. Und ausgerechnet seinen Namen kennt keiner mehr.

      Er nimmt die Tupperdose mit dem Grießkoch und einen großen Löffel, schaufelt alles in sich hinein, ohne sich an den Tisch zu setzen, verzieht das Gesicht, weil es so süß ist. Den leeren Behälter schiebt er zurück in den Kühlschrank, zündet sich eine Zigarette an und schaut beim Rauchen aus dem Fenster. Nichts als Wiese, auf der anderen Seite die hässliche evangelische Kirche. Wenger wohnt im Erdgeschoss, vor der Verandatür sind ein paar große Steinfliesen im Garten ausgelegt, die ihm der Vermieter als Sonnenterrasse angepriesen hat.

      »Da können Sie im Sommer sitzen und schreiben, Herr Wenger«, hat er gesagt, »mit Blick in die Berge, und ruhig ist es hier, gut zum Nachdenken.«

      Ja, wie schön, zum Nachdenken hat er jetzt genug Zeit.

      Wenger drückt den Zigarettenstummel in den übervollen Aschenbecher. Er wird noch eine Valium nehmen und sich wieder ins Bett legen. Er weiß nicht, wohin er sonst soll, draußen scheint die Sonne so grausig, und es gibt niemanden, mit dem er sich treffen könnte, ohne pikiert-neugierige Blicke aushalten zu müssen und Fragen, die er nicht beantworten will, nein, da bleibt er lieber drin, da bleibt er lieber allein. Das Bett ist ein guter Ort, da kann ihm nicht viel passieren, da passiert nämlich sowieso nichts.

      Im Vorbeigehen fällt sein Blick auf den Poststapel und den Brief, den er vor ein paar Tagen gelesen hat. Seither liegt er da, und Wenger schaut ihn manchmal an und findet ihn unheimlich. Er weiß nicht, was er davon halten soll, wer ihn geschrieben hat und warum. Wartet sein Vormieter darauf? Sollte er versuchen, ihn ausfindig zu machen? Aber was geht es ihn an, wenn der Kerl zu deppert ist, einen Nachsendeauftrag einzurichten?

      Irgendwas an dem Brief ist in ihn gefahren wie ein Stromschlag. Die Wut in den fremden Zeilen hat ihn elektrisiert, er hat sich angesprochen gefühlt und erkannt. Er hat Verständnis empfunden, aber auch Abscheu, Verwirrung, eine diffuse Angst. Und Erregung. Weil diese Energie, die durch die Sprache in den Briefen flirrt, ihn erinnert an die Macht, die er selbst einmal besessen hat. Er hat gespürt, was Worte auslösen können, was auch er einmal auslösen konnte mit Worten, alles eigentlich, Worte waren sein Stoff, sein Atem, sein Wesen. Er konnte sie herumwirbeln, aufeinanderstapeln, Löcher lassen dort, wo es still sein musste. Und die Worte, die auf die Stille folgten, waren noch viel lauter.

      Sehr scharf atmet Wenger ein, dann wühlt er in der erstbesten Kiste nach Papier und Stift, findet nichts, reißt die nächste auf. Bücher, Kalender, alte Fotoalben, da, endlich, die Box mit den Bleistiften, alle noch gespitzt, weil unbenutzt, er zieht einen heraus und kniet sich auf den Boden, aus dem Kalender von 2014 reißt er die drei Seiten von hinten raus, wo man sich Notizen machen kann, er setzt an, nicht nachdenken.

      Nur nicht nachdenken.

      Er lässt sie, schreibt er, mit Schwung, der ihm sofort wieder ausgeht.

      Er braucht doch nur, fügt er hinzu, zögerlicher, dann nichts mehr.

      Er starrt die Worte an, schief auf den vorgedruckten