EQUALIZER. Michael Sloan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Sloan
Издательство: Bookwire
Серия: Equalizer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354616
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mit Balkon. Das schmiedeeiserne Balkongeländer lag nun verbogen mitten auf der Straße. Ein VAZ-2107 hatte versucht, ihm auszuweichen, es aber trotzdem getroffen. Ein alter Mercedes-Benz traf das Heck des VAZ und schleuderte ihn in ein paar Tische vor dem Starbucks auf der gegenüberliegenden Straßenecke. Pärchen warfen sich auf den Boden oder hasteten aus dem Weg. Keiner wurde ernsthaft verletzt, bis auf eine junge Frau, die von herumfliegenden Glassplittern getroffen wurde.

      Elena starrte nach vorne. Hinter dem zerstörten Souvenirladen war eine riesige hölzerne Figur eines Mannes, der Einrad fuhr, eine Brille auf dem gemalten Gesicht. Er trug eine Jägermütze, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und eine Reiterhose und hob eine große weiße Tasse an die Lippen. Er balancierte schon seit Jahren dort auf dem Gebäude – aber heute war er vornüber gefallen, genau auf die Motorhaube von Elenas Lada. Die weiße Tasse war durch die Windschutzscheibe gekracht, als wolle der Einradfahrer sie dazu auffordern, einen Schluck zu trinken. Zitternd lehnte sich Elena nach vorne und schob die weiße Tasse durch die Windschutzscheibe. Die hölzerne Figur fiel vom Wagen, als sie das Steuer erneut herumriss und zurück auf den Gehweg holperte, dabei knapp das zweite Pärchen verfehlte, das gerade vor dem Gemischtwarenladen aufstand. Der Mann schien unverletzt. Seiner Freundin lief Blut übers Gesicht.

      Das alles passierte innerhalb von sechs Sekunden, die sie in absoluter Klarheit erlebte.

      Elena steuerte den Wagen zurück auf die Straße, als eine zweite Explosion das zerstörte, was ihr Ziel gewesen war. Mehr Glassplitter schossen über die schmale Straße. Zwei weitere Autos kamen schlitternd zum Stehen. Ein schwerer Volvo knallte in den alten Mercedes und schob ihn durch das Schaufenster eines Hutladens. Ein rotgesichtiger Russe kletterte aus dem Volvo und rannte zum Mercedes, wo er eine schreiende Frau aus dem Wagen zog und mit ihr davonstolperte, bevor der Mercedes in Flammen aufging.

      Und dann hatte Elena das Chaos hinter sich gelassen. Sie bog nach rechts auf den Boulevard. Sie fuhr am BECTTA-Gebäude vorbei, das große Kunstwerke in seinen hell erleuchteten Fenstern beherbergte. Links sah sie das VITEK-Schild, das hoch auf einem Haus auf der anderen Seite der Kreuzung thronte, weiß auf blauem Untergrund. Das große Gebäude daneben war in bunten Farben beleuchtet, die ein Bild darstellen sollten. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Sie konzentrierte sich auf ein kleines, bedeutungsloses Detail und versuchte, mit dem Durcheinander und der Gewalt fertigzuwerden, der sie eben knapp entkommen war.

      Sie hatten gewusst, dass sie zum Safehouse der Company unterwegs war. Sie hatten es beinahe perfekt getimt. Doch offensichtlich war etwas passiert, was das Timing um ein paar Sekunden durcheinanderbrachte. Sie erinnerte sich, wieso. Sie hatte bremsen und stehen bleiben müssen, weil eine kleine Parade von Studenten in der Mitte der Bol’shaya Bronnaya die Straße überquert hatte. Es sah aus, als wären sie von einer Art Demonstration gekommen. Das hatte sie aufgehalten.

      Und ihr Leben gerettet.

      Elena steuerte eine dunkle Seitenstraße entlang, fuhr an den Straßenrand und parkte. Sie saß einige Augenblicke still, schüttelte die Glassplitter aus dem Haar und streifte sie von ihrem Kleid. Den Rest der Fensterglasscherben auf der Fahrerseite klopfte sie mit dem Griff ihrer Pistole heraus. Bezüglich der Windschutzscheibe konnte sie nichts unternehmen. Sie hatte ein rundes, sauberes Loch, wo die weiße Tasse der Figur durch die Scheibe geschlagen war. Der Rest des Glases war unversehrt. Zum Glück.

      Ihre linke Seite brannte. Sie sah, dass ihr linker Arm rot war, von der Hitze versengt. Ihr tat alles weh, als hätte sie einen Hammer in die Rippen bekommen. Ihre Augen waren zugeschwollen und unter ihrem rechten Auge tropfte etwas Blut hervor. Sie justierte den Rückspiegel und inspizierte den Schaden. Ihr Gesicht war von kleinen, glitzernden Juwelen aus Glas übersät. Vorsichtig zog sie alle aus der Haut – es fühlte sich an wie Nadelstiche. Sie wimmerte.

      Sie hatte großes Glück gehabt.

      In der Ferne hörte sie den Krankenwagen und Polizeisirenen, die näherkamen. Ein tiefes Geräusch, anders als das vertraute Tatütata der Feuerwehrautos und Streifenwagen in der Heimat. Sie konnte nicht hier sitzen bleiben. Es gab sicher noch einen Ersatzplan, um sie umzubringen. Der war bestimmt schon in Aktion getreten. Sie brauchte Verbandsmaterial und Bandagen. Und sie benötigte die Waffen und Munition, die auf sie im Safehouse gewartet hatten, zusammen mit einem neuen Pass und anderen Ausweispapieren.

      Aber sie wusste, wo sie hingehen musste. Das verdankte sie einem Gespräch mit Robert McCall. Sie hatten sich nach dem Sex unterhalten, in einer sanften, violetten Nacht, als sie nicht schlafen konnten. Er hatte ihr Dinge erzählt. Das war ungewöhnlich für ihn. Aber er hatte reden wollen. Als hätte ihm schon seit langer Zeit niemand mehr zugehört.

      Elena verstellte den Rückspiegel erneut und rechnete damit, hinter sich Autoscheinwerfer zu sehen. Aber da waren keine. Sie konnte den Krankenwagen und das Polizeiauto hören, die den Ort der Explosion zwei Straßen weiter erreicht hatten. Sie steuerte aus der Parklücke, dankbar, dass die Heckscheibe noch ganz war. Weit würde sie mit diesem Wagen nicht kommen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie konnte den Lada nicht einfach stehen lassen. Einen Wagen auf der Straße kurzzuschließen war eine weitere Option, aber das war riskant: Autoalarmanlagen, ein Anruf bei der Polizei, um ein gestohlenes Auto zu melden. Aber sie musste nicht sehr weit fahren. Nein, sie würde es riskieren, den Lada noch ein paar Meilen aus Moskau herauszusteuern. Es blieb ihr nichts anderes übrig.

      Sie fuhr auf die Verkehrsader, die in die Vorstädte von Moskau führte. Weiterhin inspizierte sie den Rückspiegel, aber es war schwer zu erkennen, ob ihr jemand hinterherfuhr. Nur Scheinwerfer in immer neuen Mustern. Es war kein einzelner Wagen zu sehen, der ihr folgte. Sie umklammerte das Lenkrad fest, versuchte, das Brennen in ihrem linken Arm und Bein zu ignorieren. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Explosion im Safehouse, die sich über die schmale Straße hinweg ausbreitete, und wie der grelle Lichtblitz einen dunklen Fleck in ihrem Sichtfeld hinterlassen hatte. Das weckte Erinnerungen.

      Sechs Jahre zuvor war Robert McCall am Fenster eines Hotelzimmers in Serbien gestanden und hatte zugesehen, wie Explosionen den Nachthimmel erhellten. Das ganze Gebäude zitterte bei jeder einzelnen. Er trug einen Tarnanzug. Sein Blick wirkte müde, aber es war noch etwas darin zu sehen, etwas Tieferliegendes. Er hatte einfach bewegungslos dagestanden und in die Nacht hinausgestarrt. Elena war vom Bett aufgestanden und zu ihm gegangen. Sie erinnerte sich, wie ihr Körper im Fenster reflektiert worden war, auf dem die Regentropfen glitzerten.

      »Woran denkst du?«, hatte sie gefragt.

      »Ein paar alte Erinnerungen«, sagte McCall.

      »Gute?«

      »Welche, die ich nicht loswerde.«

      Er entzündete mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette. Elena seufzte.

      »Schlecht für dich.«

      »Ich sehe mich gerne als Hüter der Flamme«, sagte McCall trocken.

      Sie nahm ihm die Zigarette ab, inhalierte tief, blies den Rauch aus und gab sie ihm zurück. Sie lachte wieder, aber nun hatte es einen rauen Unterton.

      »Ich mache mir Sorgen um deine Lunge und du willst dich einer Schießerei stellen. Wie wichtig ist denn Jancvic?«

      »Das kommt darauf an, was die Company mit ihm macht. Er ist eine Schachfigur. Sie werden ihn zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen, sobald sie ihn da rausgeholt haben, oder die geben ihn zurück, im Tausch gegen einen von uns.«

      »Also hat er gar keine Bedeutung«, sagte sie tonlos.

      »Jeder hat Bedeutung«, erwiderte McCall, »aber es ist allen egal.«

      »Dir nicht.«

      »Ich tue die Arbeit, die erforderlich ist. Das ist mein Job.«

      »Ich kenne dich besser«, sagte sie leise.

      McCall drückte die Zigarette aus. Einen Moment später hörte man ein Klopfen an der Tür.

      »Hast du ihn gehört, bevor er geklopft hat?«

      »Ja.«

      Kostmayers Stimme war gedämpft. »Es ist so weit, McCall.«

      McCall sagte laut: »Gib mir noch eine Minute.«