EQUALIZER. Michael Sloan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Sloan
Издательство: Bookwire
Серия: Equalizer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354616
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zum Waggon war verbogen. Sie drückte sich daran vorbei in das kalte, kahle Innere. Die Schatten erzitterten im Licht der Taschenlampe. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie ging den Mittelgang entlang, an den verrotteten und zerstörten Sitzen auf beiden Seiten vorbei. Die auf der linken Seite zählte sie. Dann zögerte sie. Wie viele Sitzplätze, hatte McCall ihr gesagt? Fünf oder sechs? Es waren sechs, hatte das Kontrolle nicht bestätigt?

      Sie erreichte die sechste Sitzreihe und kniete sich hin. Sie betastete den Boden unter den beiden Sitzen. Er war gesplittert und die Farbe blätterte ab wie bei all den anderen Holzbohlen unter den Bänken. Ihre Finger strichen über die Oberfläche.

      Nichts.

      Sie war bei den falschen Plätzen.

      Und ihr lief die Zeit davon.

      Sie war überzeugt, dass sie die FTB-Agenten abgeschüttelt hatte, die sie verfolgten, aber sie hatte keine Zeit gehabt, zu überprüfen, ob andere Wagen vom Ort der Explosion losgefahren waren. Dass ihr jemand gefolgt war, glaubte sie zwar nicht, aber sie konnte nicht sicher sein. Und jeder Moment, den sie in diesem gruseligen, verlassenen Park vergeudete, würde sie teuer zu stehen kommen.

      Und dann fand sie es.

      Ihre Finger erfühlten einen Vorsprung und sie drückte ihn zur Seite. Das Brett unter dem Sitz verschob sich. Sie griff hinein, tastete herum und berührte ein langes, kaltes und glattes Objekt. Sie zog es heraus: Der Gegenstand war in glänzendes, schwarzes Polyethylen verpackt. Sie streifte das Gummiband ab, das die Folie an Ort und Stelle hielt, und wickelte zwei Pässe aus. Beide trugen ihren Namen, hatten jedoch verschiedenen Nationalitäten: amerikanisch und russisch. Zwei Bilder von ihr, auf einem mit offenen Haaren, auf dem anderen waren sie hochgesteckt. Geburtsurkunden, Fotos einer Familie, die sie nicht hatte, Kaufbelege aus Läden in Moskau, in denen sie niemals war, Empfehlungsschreiben von CNN und dem US-Justizministerium.

      Sie steckte die Hand tiefer hinein und tastete suchend herum. Kalt, hart, die Form einer Pistole. Was sie herauszog, war eine weitere Beretta, in Plastikfolie eingewickelt, eine Schachtel Munition, ein Schnappmesser mit genug Befestigungsmöglichkeiten daran, dass sich jeder Pfadfinder darüber gefreut hätte. Und ein kleiner Umschlag.

      Sie riss ihn auf.

      Autoschlüssel. Für einen grauen Volvo XC60, fünf Zylinder, manuelles Sechsganggetriebe. Am Schlüsselanhänger war ein quadratisches Stück Papier befestigt. Sie richtete die kleine Taschenlampe darauf: Eine grob skizzierte Karte, die zeigte, wo der Volvo hinter dem entgleisten Zug im Schatten eines verlassenen Gebäudes geparkt war.

      Elena lächelte.

      Hätte sie aufgesehen und durch das dreckige Zugfenster geblickt, wäre ihr der schwarze GAZ-3102-Wolga aufgefallen, der durch den Mondschein fuhr, der Motorenlärm vom Sturm überdeckt. Er parkte bei der Stahlleiter, die zum gecrashten Helikopter führte, der wackelig auf der unechten Stromleitung hing.

      Kapitel 4

      McCall mochte das italienische Restaurant in der Nachbarschaft. Ihm gefielen die karierten Tischdecken, die Lampen mit dem akkurat heruntergelaufenen Kerzenwachs daran, die Bilder von Venedig an den Wänden mit den glitzernden Kanälen, die Weigerung, zeitgemäß zu sein. Er hätte an einem beliebigen Tag in den letzten 60 Jahren ins Luigi’s gehen können und es hätte nicht anders ausgesehen als jetzt.

      Das Restaurant war brechend voll. Es gab einen lärmenden Tisch in einer Nische, den McCall nicht sehen konnte und an dem ein paar Gäste offensichtlich viel Spaß hatten. Er hatte die Pärchen an den anderen Tischen um sich herum beobachtet, teils lebhaft und überschwänglich, teils zurückhaltend und still, die einfach ihr Leben lebten. McCall saß alleine an seinem üblichen Ecktisch und fragte sich, ob er nun sein Leben lebte oder nur so tat. Es kam ihm so vor, als würde er auf etwas warten. Auf einen kleinen, intimen, mitreißenden Moment, der sein Leben veränderte. Emotional fühlte er sich im Leerlauf. Aber das war eigentlich schon immer so gewesen.

      Jenny, seine Kellnerin, eine vorlaute Blondine mit einem Akzent, der ganz und gar nicht nach Venedig klang, sondern eher aus einer Gegend nicht weit von New York, trat an seinen Tisch, um ihm noch mehr Kaffee einzuschenken und den leeren Pastateller mitzunehmen.

      »Sie essen immer alleine, Mr. McCall. Sie tragen keinen Ring, also sind Sie nicht verheiratet. Ich habe Sie noch nie mit einer Freundin gesehen. Oder einem Freund. Oder überhaupt mit irgendjemandem. Sind Sie einsam?«

      »Überhaupt nicht.«

      »Wenn Luigi hören könnte, dass ich so mit Ihnen rede, dann würde er mich rausschmeißen. Aber Sie sind so was wie unser Kompass. Sie kommen immer zur gleichen Zeit, essen immer dasselbe, Fusilli mit Zucchini und Kräutern, trinken zwei Gläser Schiopetto Rivarossa Jahrgang 2009, sind immer sehr charmant und höflich und … mir fällt das Wort nicht ein.«

      »Langweilig?«

      »Besonnen. Ja, das ist es. Nachdenklich. Als würden Sie viel grübeln. Sie sind ein Rätsel.«

      McCall lächelte. »Bin ich das?«

      »Sicher, und wir kommen nicht dahinter. Eine der Kellnerinnen ist überzeugt, Sie sind Schriftsteller. Sally hält Sie für einen Anwalt. Ich glaube, Sie sind im Zeugenschutzprogramm. Sie sitzen immer mit dem Rücken zur Wand und überblicken das Restaurant. Von Ihrem Platz aus können Sie beide Eingänge sehen und die Tür zur Küche. Aber Sie wirken immer so entspannt. Nicht, als würden Sie sich Sorgen machen, dass plötzlich jemand reinkommen und eine Waffe auf Sie richten könnte.«

      »Sie schauen wohl zu viele Bruce-Willis-Filme?«

      Sie lachte. »Kann sein. Ich habe dieses komplette Szenario im Kopf, was Sie betrifft, und ich bin mir sicher, dass ich nicht mal nahe dran bin. Aber behalten Sie ruhig Ihre Routine bei. Kommen Sie weiter zur selben Zeit ins Luigi’s, essen Sie das Übliche und trinken Sie denselben Wein, sonst könnte die Zeit stehen bleiben oder so was in der Art.«

      »Ich verpasse vielleicht mal ab und zu einen Abend, aber ich lasse Sie nicht hängen.«

      »Also, was tun Sie denn wirklich?«

      »Wenn ich Ihnen das sagte, wäre ich ja nicht mehr rätselhaft.«

      »Wohnen Sie in der Gegend?«

      »Zwei Blocks entfernt.«

      Jenny blieb noch einen Moment stehen, vielleicht hoffte sie, dass er ihr die Straße verraten würde, vielleicht sogar die genaue Adresse, aber das tat er nicht. Sie ging. Am Tisch in der Nische brach Gelächter aus. McCall legte Geld auf die Rechnung, inklusive eines großzügigen Trinkgelds, stand auf und ging zur Front des Restaurants. Von hier warf er einen Blick in die Sitznische. Dort saßen sechs junge Männer am Tisch, anscheinend sehr gut gelaunt, alle schick gekleidet, vielleicht Russen, vielleicht nicht. Gutaussehend, zurückgegelte schwarze Haare, schwarze Anzüge, Ringe an den Fingern. Ein älterer Mann Ende dreißig saß mit ihnen zusammen: Er war ruhiger als der Rest und stimmte nicht in das Gelächter mit ein, das auf eine lustige Bemerkung folgte. Seine Augen hoben sich kurz und er sah McCall an, blickte dann völlig desinteressiert wieder weg.

      McCall nahm seinen dunkelgrauen Mantel von einem Ständer. Luigi, dick und geschwätzig, Ende 60, ein überschwänglicher Gastgeber, kam herübergerauscht und schüttelte McCall energisch die Hand.

      »Mr. McCall! Wie waren die Fusilli?«

      »Exzellent, wie immer.«

      »Sehr gut. Es ist heute kalt draußen. Sie haben noch mehr Regen vorhergesagt. Wie der Polizei-Sergeant in der tollen alten Krimiserie immer sagt, von der ich mir die Wiederholungen ansehe …« McCall zog seinen Mantel an. Es war ihr allabendliches Ritual. Er konnte fast mitsprechen. Seien Sie vorsichtig da draußen!

      »Das bin ich immer.«

      »Sehen wir Sie morgen Abend? Molto bene. Machen Sie’s gut.«

      McCall schlenderte in die Nacht hinaus.

      Hinter ihm sah der Mann an dem lauten Tisch noch einmal auf.

      Langsam