EQUALIZER. Michael Sloan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Sloan
Издательство: Bookwire
Серия: Equalizer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354616
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in der linken Hand und hielt sich mit der Rechten fest. Er achtete darauf, nicht auszurutschen.

      Die Schneeflocken wirbelten ein wenig heftiger um ihn herum, als der Wind auffrischte, und die Leiter wurde rutschig.

      Er war ihr zum Safehouse gefolgt, war einen Block hinter ihr gewesen, als die Bombe losgegangen war. Sie hatte ihn irritiert. Er wusste, er war nur das Back-up, dennoch wollte er nicht, dass die Beute direkt vor seinen Augen getötet wurde. Man würde ihn natürlich so oder so bezahlen, aber sie war wunderschön und wehrhaft und der Gedanke, ihr das Lebenslicht auszuknipsen, war einfach zu verlockend. Sie hatten sich verrechnet. Er war froh, dass sie so schnelle Reflexe hatte. Den Lada hatte sie mit großem Geschick gesteuert, war auf den gegenüberliegenden Gehsteig gefahren und wieder herunter, war den anderen Autos ausgewichen. Er hatte sich Sorgen gemacht, als die große Holzfigur direkt auf ihren Wagen gefallen und die weiße Tasse durch die Windschutzscheibe geknallt war. Welcher Idiot stellt eigentlich eine solche Monstrosität an der Straße auf? Sie war wohl kaum dekorativ oder schön anzusehen. Aber sie hatte das Hindernis geschickt umfahren. Vermutlich war sie von den herumfliegenden Splittern des Fensters auf der Fahrerseite verletzt worden, dachte er, aber als sie aus dem Wagen gestiegen war, lief sie schnurstracks zum Zugwrack, ohne zu straucheln. Er hatte keine Ahnung, was sie in dem verrotteten Zug mitten in einer Industriebrache wohl zu finden hoffte. Vermutlich war das irgendein Plan B, eine letzte Zuflucht, weil ihr Safehouse kompromittiert worden war.

      Aber das spielte keine Rolle.

      Sie würde diesen einsamen Ort nicht lebend verlassen.

      Hier wirkte alles völlig leblos. Vermutlich hatten schon seit Ewigkeiten keine Touristen mehr diesen gruseligen Themenpark besucht. Die Echos des Todes, vom Flugzeugwrack über den demolierten Zug bis zum abgestürzten Helikopter, flüsterten ihm zu. Das war tröstlich. Er hörte dieses Flüstern öfter. Normalerweise direkt bevor oder nachdem er ein Leben ausgelöscht hatte. Es waren keine Stimmen in seinem Kopf. Nichts derart Greifbares. Es war mehr wie ein Flüstern der Schatten, die vor seinem geistigen Auge vorbeizogen und ihm versicherten, dass der Tod hier ein gern gesehener Gast war.

      Sein Fuß rutschte auf einer glatten Sprosse aus und er klammerte sich fest. Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Wieso war er ausgerutscht? Er war doch sehr vorsichtig hier hochgestiegen. Er stützte das Hardcase auf einer der vereisten Stahlstufen ab, hielt sich nun mit links an der Leiter fest und hob die rechte Hand hoch.

      Sie blutete.

      Nicht stark, aber er hatte sie an einem Nagel aufgerissen, der unten aus dem Geländer ragte. Dort waren die Überreste eines kleinen Holzschildes am Geländer festgemacht. Er hatte natürlich nicht gespürt, wie der Nagel seine Haut aufgeritzt hatte, aber sein Körper hatte reagiert und deswegen war er abgerutscht.

      Er suchte einen sicheren Stand auf der Leiter. Eigentlich hatte er keine Handschuhe anziehen wollen, doch nun kam er zu dem Schluss, dass es wohl besser war. Aus seiner Manteltasche zog er ein Paar hautenge schwarze Lederhandschuhe und schlüpfte hinein. Das würde die Blutung stoppen. Er lehnte sich nach unten, nahm wieder das Hardcase in die Hand und erklomm die letzten zehn Meter zur Stahlplattform an der Spitze.

      Der Wind blies ihm hier oben schneidend ins Gesicht. Das hatte keinen großen Einfluss, nicht wie auf einem New Yorker Wolkenkratzer, wenn man ein Ziel auf der Straße unter sich anvisierte und all die anderen Gebäude die Windrichtung beeinflussten. Der Wind hier im Themenpark war zu vernachlässigen, allerdings war er so heftig und so kalt, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er erinnerte sich an einen Einsatz in Sibirien, bei dem er schnell die Tränen abwischen musste, bevor sie bei minus 50 Grad auf den Wangen gefroren. Der Wind zerzauste seine langen schwarzen Locken, die wie Schlangen um sein Gesicht wirbelten. Er wischte sich die vom Schnee nassen Haare aus der Stirn. Dann machte er zwei Schritte in Richtung des Helikopters auf der Plattform. Ihm wurde klar, dass er nicht nur an der unechten Stromleitung hing. Er war mit dünnen Stahlseilen gesichert. Er streckte die Hand aus und zog an zweien davon. Sie gaben nicht nach. Es bestand keinerlei Risiko, dass der Helikopter in die Tiefe stürzte.

      Das war gut, denn er wollte aus der verunglückten Maschine zielen. Der Winkel von der Plattform war nicht optimal.

      Er kniete sich hin, öffnete die Schnallenverschlüsse des Pelican-Hardcase und machte den Deckel auf. Die schwarzen Handschuhe zog er aus. Auch wenn sie hauteng waren, arbeitete er lieber mit bloßen Händen. Seine Hände waren seine Stärke. Das zerlegbare AWC-M91-Gewehr lag gut geschützt in der Schaumstoffaussparung. Er holte den Lauf heraus und den Fiberglasschaft mit dem Pachmayr-Rückschlagminderer. Der Abzug war von einer Remington 700 BDL und feinabgestimmt. Er nahm zwei Ausrichtungsstäbe und den stählernen Ankerstab aus dem Case. Dann hob er das spezielle MARS6-WPT-Nachtsichtzielfernrohr mit schwarzem Finish und vergrößerter Augenmuschel heraus. Seine Tiefenschärfe war phänomenal und es hatte eine manuelle Helligkeitskontrolle für das Fadenkreuz in zwei Farben. Er konnte entweder einen roten oder bernsteinfarbenen Zielpunkt verwenden. Bei dem Wetter besser rot. Er würde ihn eine Sekunde auf ihrem Gesicht aufleuchten lassen, damit sie es wusste. Sie hätte keine Chance. Aber es war der Moment, in dem ihr klar wurde, was passierte, der sich in sein Gedächtnis brannte. Das Aufflackern von Angst. Nicht mehr als ein Flackern, denn dann würde ihr Überlebensinstinkt einsetzen und ihr sagen, sie solle sich zu Boden fallen lassen und zur Seite werfen. Aber dieser Blitzlichtmoment wäre unauslöschlich.

      Er brachte das Nachtsichtgerät am Gewehr an, schnappte den Schaft ein, lud fünf 12-HGR-Hohlspitzgeschosse mit Stahlmantel in die Kammer.

      Über die Plattform führte eine Stahlkette zur Rückseite des Hubschraubers. Er machte sie los, beugte sich nach vorne und stieg in den havarierten Helikopter. Ächzend änderte dieser seine Position ein wenig. Er hielt sich an einem Handgriff fest und fing sich. Einen irrationalen Moment lang fragte er sich, ob dieser defekte Hubschrauber sich tatsächlich lösen und zu Boden krachen konnte. Er musste zumindest das Gewicht eines Mannes aushalten, wenn er gewartet wurde. So groß war er nicht, aber kräftig gebaut, er wog über 100 Kilo. Doch ein Mi-38-Helikopter konnte bis zu 30 Passagiere und eine Zweimann-Crew befördern. Andererseits war dies im wahrsten Sinne des Wortes ein Katastrophenpark und er fragte sich, wie lange es her war, dass tatsächlich eine Wartungscrew diesen Helikopter betreten hatte.

      Behutsam tappte er nach vorne mit der M91 in einer Hand, mit der anderen hielt er sich im gepolsterten Inneren fest. Es gab genug Möglichkeiten, da, wo die Polsterung obszön herausquoll, als sei sie mit einem Messer aufgeschlitzt worden. Er schaffte es bis zur Tür des Helikopters. Zuerst hatte er befürchtet, dass man sie zugeschweißt hatte, aber das war sie nicht. Sie ließ sich ohne Weiteres öffnen. Mit dem Rücken lehnte er sich seitlich gegen die Türöffnung. Er steckte den Ankerbolzen in den Boden des Helikopters und sicherte ihn. Dann nahm er die richtige Position ein und zielte mit dem MARS-Nachtsichtgerät. Er fokussierte auf den zerstörten Passagierzug und bewegte das Zielfernrohr langsam über die Fenster, bis er zum ersten entgleisten Waggon kam. Er war sich nicht sicher, in welchem sie sein würde. Das war ein Fall für die Aufklärung. Sie war in einem davon und musste auf demselben Weg wieder herauskommen, auf dem sie hineingegangen war, um dann zu ihrem Lada zu rennen.

      Nun sah er sie.

      Die Vergrößerung ließ ihre Gestalt deutlich sichtbar werden, als würde sie ihn durch das schmutzige Zugfenster anspringen. Sie schien ihm so nahe zu sein, als ob er den Arm ausstrecken und sie berühren konnte. Sie hatte dunkle Haare, war etwa 1,70 Meter groß, außer sie bückte sich, vielleicht sogar über 1,70. Er berechnete es mit ein. Die Informationen, die er hatte, lauteten, dass sie 1,65 war. Ihr Gesicht war bildschön, selbst durch das schmutzige Glas. Das war gut. Je hübscher sie waren, desto exquisiter war ihr Schmerz, wenn er ihre Gesichtszüge hässlich verzerrte. Wenn die sanften, feuchten Augen vor Panik dunkel wurden. In Geschichten sahen die Helden dem Tod mit einem Gleichmut ins Auge, den er in echt nie gesehen hatte. In der Realität krallte sich die Angst einem Mann oder einer Frau ins Gesicht, verzerrte es, verwandelte es für immer. Es war der letzte Ausdruck ihres Lebens.

      Und der gehörte ihm.

      Dann verschwand ihr Gesicht. Er vermutete, sie ging zurück zur Tür des Zugs. Von dort würde sie die fest verankerten Stufen hinabgehen. Sie hatte einen Blick nach draußen riskiert, um