Auch die Adresse von Morches Cousine Rosl Hübner ist ermittelt – die 55-Jährige lebt in Zittau in der Willi-Gall-Straße 13.
In den Meldekarteien der Abteilung Pass- und Meldewesen, kurz P/M, der Deutschen Volkspolizei findet man auch die Adressen ehemaliger Arbeitskollegen von Morche und Hölzel, die man ebenfalls befragen wird.
Dienstag, 22. August
Oberleutnant der K Wenderlich – zu Beginn der sechziger Jahre Leiter der Abteilung Kriminalpolizei im VPKA Zittau – gibt in der Sache Morche zu Protokoll: Er erinnere sich, dass »im Jahre 1962 oder 1963, ein genauerer Zeitpunkt kann nicht mehr angeführt werden«, Karl Morche bei ihm vorstellig wurde und sich als Mitarbeiter beworben hat. Als Begründung »brachte er vor, dass er einen Diebstahl von MDN 50,00 im VEB Robur Zittau, Arbeitsstelle des Morche, und den Mord an der Weberkirche in Zittau aufklären wollte«.
Um die Ernsthaftigkeit seiner Bewerbung zu unterstreichen, legte ihm Morche einen »Aufklärungsplan« vor. »Es handelte sich dabei um einen weißen Bogen im Format DIN A1, auf den verschiedene aus illustrierten Zeitungen ausgeschnittene Bilder geklebt waren, welche mit verschiedenfarbigen Strichen untereinander wahllos verbunden waren.«
Karl Morche habe damals allerdings nicht erklärt, was er jetzt behauptet – nämlich, dass er der Mörder jener Frau gewesen sei.
Für ihn, Oberleutnant Wenderlich, steht außer Frage, »dass es sich bei Morche um einen nervenkranken Menschen handelte«. Kurz nach der Vorsprache in der Kriminalpolizei Zittau sei er auch in die Psychiatrische Klinik Großschweidnitz eingeliefert worden.
Dienstag, 29. August
Oberleutnant der K Strengeld sucht im VEB Robur die Transportbrigade Prasse auf. Sie arbeitet in der Eisenbahnstraße. In dieses Kollektiv ist Karl Morche seit sieben Jahren eingebunden. An der im Protokoll als »Aussprache« bezeichneten Zusammenkunft nehmen der Meister Erich Adam, der Brigadier Heinz Prasse sowie die Transportarbeiter Werner Wehle, Günter Jonas und Manfred Haußig teil.
»Die Kollegen sind sich darüber einig, dass Morche niemals fähig sei, einem Menschen etwas zuleide zu tun, schon gar nicht fähig, einen Menschen umzubringen.« Nicht minder apodiktisch erklären sie aber dem Oberleutnant auch, dass ihr Kollege »nicht normal, sondern verrückt im Kopf sei«.
Jedes Jahr im Frühsommer, 1966 ausgenommen, hätten sie bei ihm einen »Krankheitsschub« beobachtet, danach sei er durchschnittlich ein Vierteljahr in der Heilanstalt in Großschweidnitz gewesen.
Wie sich ein solcher Anfall bemerkbar gemacht habe, will der Ermittler wissen.
Indem »Kollege Morche stundenlang in die Sonne stierte und dabei die Körperlast auf ein Bein legt und dabei das andere Bein entlastet, wie bei der militärischen Rührt-euch-Stellung. Dann angesprochen sieht er seinem Gegenüber stier in die Augen und braucht lange Minuten, um auf gestellte Fragen zu antworten. Ihm übertragene Aufträge werden erst nach minutenlangem Überlegen langsam ausgeführt.
In solchen Fällen sorgten in der Vergangenheit die Kollegen dafür, dass er wieder in fachärztliche Betreuung nach Großschweidnitz kam.«
Strengeld urteilt: »Von der Brigade habe ich die besten Eindrücke. Ich zweifle nicht daran, wenn mir versichert wurde, dass man sich die erdenklichste Mühe gegeben hat. Morche ist niemals wegen seines Leidens gehänselt oder gekränkt worden. Die Brigademitglieder schätzen Kollegen Morche als guten und verlässlichen Mitarbeiter. Man hat es wegen seiner Krankheit weitgehend vermieden, ihn zu körperlich schweren Arbeiten heranzuziehen, schon um eventuelle Unfallgefahren zu vermeiden. In seiner Freizeit hat Kollege Morche in einer Laienkapelle als Pianist mitgewirkt, und die Kollegen sagen, dass er sehr intelligent ist und alles aus dem Kopf spielte, auch klassische Musik.«
Morches Leumund ist positiv. Und darum habe seine Teilnahme am Busausflug in die Tschechoslowakei am 2. Juli nie zur Disposition gestanden. Werner Wehle habe Morche kurz zuvor noch angerufen, da Morche im Juni im Lager eingesetzt gewesen ist und nicht in der Brigade arbeitete. Wehle hatte ihm die Route genannt, es sollte in Morches frühere Heimat und auch in seinen Geburtsort Friedland gehen, auch nach Haindorf, wo Morches Großeltern auf dem Friedhof liegen. Darauf habe er erklärt, dass er am Freitag, dem 30. Juni, sich den Tagespassierschein im VPKA abholen werde. Als Morche am Sonntagmorgen nicht zur Abfahrt des Busses erschien, habe man angenommen, dass er verschlafen hat, wollte aber nicht warten. Erst in der Woche darauf erfuhr die Brigade, dass Morche wieder in Großschweidnitz ist.
»Die Kollegen meinen«, so schreibt Strengeld, dass die bevorstehende Reise »ihn seelisch so aufgewühlt haben könnte, dass bei ihm neuerlich ein Schub seiner Geisteskrankheit einsetzte«.
Offenkundig gaben sie sich eine Mitschuld.
Inwieweit der Hinweis der Transportarbeiter zutraf, dass auch Morches Mutter »irgendwie geisteskrank gewesen« und ihr Kollege vielleicht erblich belastet sei, vermag der Oberleutnant nicht zu beurteilen.
Das Kommissariat Görlitz beantragt bei der Staatsanwaltschaft Zittau eine Verlängerung der Bearbeitungsfrist bis zum 1. Oktober.
Zur Begründung wird Morches Beschwerde wegen der beschlagnahmten Handtasche angeführt. Deshalb habe der »Vorgang sehr lange beim Bezirksgericht bzw. der Bezirksstaatsanwaltschaft in Dresden« gelegen, das heißt die Unterlagen, »so dass während dieser Zeit die im Untersuchungsplan vorgesehenen Ermittlungs- und Untersuchungshandlungen nicht weiter fortgeführt werden konnten«.
Zudem müsse »erst geprüft werden, inwieweit der Beschuldigte wieder vernehmungsfähig ist«. Dieser befindet sich noch immer »aufgrund eines richterlichen Unterbringungsbefehles in der Pflegeanstalt Großschweidnitz«.
Zwei Wochen später, am Donnerstag, dem 14. September 1967, bittet Görlitz erneut um eine Fristverlängerung, diesmal bei der Bezirksstaatsanwaltschaft in Dresden. Zwar hege man unverändert Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Morches, dennoch müsse »ernsthaft und unvoreingenommen« geprüft werden, »ob er das Verbrechen nicht etwa doch begangen hat oder anderweitig in strafrechtlicher Beziehung zu diesem Verbrechen steht«.
Hauptmann der K Niebel erklärt in seinem Anschreiben, dass man bei den Ermittlungen schon gut vorangekommen wäre, doch es sei noch eine Zeugin zu vernehmen, »die damals vor der Tat mit der Geschädigten (womit das Mordopfer Hölzel gemeint ist – E. Sch.) Dienst versah und damals offenbar nicht vernommen worden ist. Die Zeugin befindet sich z. Zt. zu einem Ferienaufenthalt in Bulgarien.
Des Weiteren soll die geschiedene Ehefrau des Beschuldigten nochmals vernommen werden.«
Dienstag, 12. September
Rosl Hübner, Morches Cousine, als Weberin im VEB Textilkombinat Zittau beschäftigt, wird von Oberleutnant Strengeld am Nachmittag befragt. Das Gespräch im VPKA dauert fünfzig Minuten. Rosl Hübners Mutter ist die Schwester von Morches Vater.
Man zeigt ihr die vier schwarzen Damenhandtaschen, von denen sie keine kennt. Auf Strengelds Frage, woher sie wisse, dass ihr Cousin wieder einmal in Großschweidnitz sei, antwortet sie: von Josef Ferner, dem Leiter der Kapelle, in der ihr Cousin als Pianist spiele. Herr Ferner habe sie am 3. September daheim besucht. Morches Kollege kümmere sich ein wenig um ihren Cousin, der »sehr zurückgezogen« lebe, seit er geschieden ist. Er habe ihr gesagt, »dass mein Cousin wieder fortgekommen ist in die Nervenheilanstalt. In diesem Zusammenhang sagte Herr Ferner auch, dass mein Cousin sich bezichtigt hätte, 1950 einen Mord hier in Zittau an der Weberkirche begangen zu haben«.
Sie selber habe von diesem Verbrechen überhaupt keine Kenntnis, weil sie von 1949 bis 1951 in Westdeutschland gelebt hätte.
Ob Morche noch weitere Verwandte in der DDR habe, erkundigt sich der Oberleutnant. Sie sei die einzige, sagt Rosl Hübner, seit Karl Morches Eltern auf dem Friedhof liegen. In Freiburg im Breisgau lebe nach ihrer Kenntnis ein Bruder, Josef Morche.
Zur geschiedenen Frau ihres Cousins habe sie »keinerlei Verbindung«.
Damit ist die Befragung zu Ende.
Knapp zwei Stunden später, genauer gesagt um 17.10 Uhr, sitzt