Als Erstes werden auch ihm die vier Handtaschen gezeigt. Er kennt davon keine, den Spiegel und das Parfümfläschchen hat er auch nie zuvor gesehen.
Wie sich zeigt, ist das Burckhardt nachgesagte »intime Verhältnis« zu der Ermordeten offenkundig nur ein Gerücht. Er weiß weder, in welcher HO-Verkaufsstelle sie tätig war, noch wie ihr Sohn mit Vornamen hieß. Und mit einem »Bauchladen« hat er sie auch nie gesehen.
Der Ermittler Strengeld fragt nach Erich Thieme und Karl Morche. »Diese Namen habe ich noch niemals gehört«, sagt der Landwirt, auch Frau Hölzel habe sie ihm gegenüber nie erwähnt.
Der Kriminalist bittet ihn um eine Charakterisierung Anni Hölzels. Burckhardt bezeichnet sie als eine »recht ordentliche und anständige Frau«. Was darunter konkret zu verstehen ist, sagt er nicht. Das aber ist für den Fall Morche ohnehin unerheblich.
Gleichwohl signalisieren Strengelds Fragen, dass es ihm auch um die Lösung des damals ungeklärten Mordfalls geht.
»Sie war sehr beredt, d.h. sie konnte mit dem Mundwerk gut fort, war aber immer nett und freundlich.« Ob sie Feinde gehabt hätte? Davon wisse er nichts, sagt Burckhardt, sie habe dergleichen ihm gegenüber nie verlauten lassen.
Am Ende des Protokolls heißt es: »Ich lese meine Vernehmung nicht durch, weil ich infolge meines schlechten Sehvermögens damit nicht zurechtkomme.«
Nachdem ihm alles vorgelesen wird, signiert er mit blauem Kugelschreiber jedes der drei Blätter.
Um 18.10 Uhr verlässt Burckhardt gemeinsam mit seiner Frau das Volkspolizeikreisamt Zittau.
Die kürzeste Befragung an jenem Tag findet von 15.40 Uhr bis 16.15 Uhr statt. Strengeld vernimmt Annliese Fischer, die 1950 als Anneliese Koschnick in der HO-Gaststätte Dreiländereck als Verkäuferin tätig war. Jetzt arbeitet sie bei der Firma Könitzer & Haebler als Weberin.
Nach siebzehn Jahren kann sie sich kaum noch an Personen und Vorgänge erinnern, ihre damalige Kollegin Hölzel habe sie »nicht näher« gekannt. Anni Hölzel habe damals am Kuchenbüffet gearbeitet, sie selbst habe am Stand daneben Süßigkeiten verkauft. Sie hätten alle Schicht gearbeitet, immer wenn sie frei hatte, hätte ihre Kollegin hinterm Tresen gestanden, weshalb man sich nur kurz gesehen und gesprochen habe. Nur an jenem Tage arbeiteten sie gemeinsam, weil Anni Hölzel den Dienst einer Kollegin übernommen hatte. Den Grund könne sie nicht mehr sagen. Die Schicht sei von 16 bis 24 Uhr gegangen. Das wisse sie deshalb so genau, weil sie »damals noch in der Nacht von der Kriminalpolizei in meiner Wohnung vernommen« wurde.
Zum »Bauchladen«, den Morche erwähnte, sagt Anneliese Fischer, dass keine Kollegin aus dem »Dreiländereck« jemals als Straßenverkäuferin eingesetzt worden ist. Auch Anni Hölzel nicht.
Donnerstag, 14. September
Kriminalmeister Steppan und Oberleutnant Strengeld protokollieren ihre Ermittlungsergebnisse »bezüglich der am Freitag, dem 18. Juli 1950, zwischen 00.40 und 01.30 Uhr in Zittau, Innere Weberstraße, auf dem Bürgersteig an der Südseite der Weberkirche herrschenden Lichtverhältnisse«.
Darin fließen die Auskünfte der Meteorologen ein und jene von Johannes Korditzke und Fritz Klemm, Mitarbeiter des VEB Energieversorgung Dresden, Meisterbereich Zittau. Diese klärten die Ermittler auf, dass »keinerlei Pläne aus dem Jahr 1950 mehr vorhanden seien«, aber sie waren sich ziemlich sicher, dass schon damals die Beleuchtung am Tatort so war, wie sie heute noch immer ist: »Es sind über der Fahrbahn an Überspannungen aufgehangene Lampen, die aber damals mit anderen Glühbirnen (es sollen jeweils zwei Glühbirnen gewesen sein) bestückt waren. Welche Leistungen die damals, 1950, in den fraglichen Straßenlampen am Auffindort der Ermordeten und dessen Umgebung befindlichen Glühbirnen hatten, konnte nicht mehr angegeben werden, weil auch darüber keine Aufzeichnungen vorhanden sind.
Mehr konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, auch nicht, ob in der fraglichen Zeit alle diese Straßenlampen brannten.«
Zwei Tage später überprüft Oberleutnant Strengeld bei einem Ortstermin die Angaben der beiden. »Der Abstand der Straßenlampen in der Inneren Weberstraße hinunter in Richtung Weberkirche beträgt von Lampe zu Lampe ca. 35 Meter. Die Entfernung von der letzten Straßenlampe im untersten Teil der Inneren Weberstraße bis zum Auffindort des Opfers beträgt ca. 15 Meter. Die Entfernung vom Auffindort des Opfers bis zu der über der Straßenkreuzung hängenden Straßenlampe beträgt ca. 20 Meter.«
Resigniert schließt er: »Heute kann nicht mehr ermittelt werden, welche Leistung (Lichtstärke) seinerzeit diese Straßenlampen hatten.«
Dienstag, 19. September
Zwischen 15.10 Uhr und 17.20 Uhr vernimmt Oberleutnant Strengeld Josef Ferner. Ferner, Jahrgang 1920, arbeitet als Sachbearbeiter beim VEB Robur und spielt mit Morche in einer Band. Er kennt diesen seit 1959 und schildert ihn als »ruhig, bescheiden, hilfsbereit und gutmütig«. Er habe allerdings auch den Eindruck, dass Morche »Minderwertigkeitskomplexe« hat.
Natürlich hätten sie im Betrieb von seiner Krankheit gewusst. Diese sei immer schubweise aufgetreten, vornehmlich im Juni. Wenn der Monat ohne Anfall vorübergegangen war, sei man überzeugt gewesen, dass der Rest des Jahres gut verlaufen würde.
»Auch deshalb warteten wir immer auf den Geburtstag unseres Staatsratsvorsitzenden, Walter Ulbricht, also auf den 30. Juni, weil dieser Tag neben seiner genannten Bedeutung für uns bezüglich Morche immer so eine Art Erinnerungsmarke war.«
Als Symptome nannte Ferner »gläsern wirkende Augen und sehr schweißige Hände«. Karl Morche bemerkte dies selbst und wurde daraufhin immer unruhiger und unsicherer. Er habe dann auch bald »wirres Zeug« geredet.
Dazu gehörte beispielsweise, dass er sich als »berufen« erklärte, Unrecht, das andere Menschen begangen hatten, »wieder in Ordnung zu bringen. So wollte er die Welt bessern und verändern.« Er habe einmal einen Diebstahl im Betrieb aufklären wollen. Einer Kollegin waren fünfzig Mark gestohlen worden, was Morche für ein Drama hielt.
»Mir ist auch bekannt, dass er sich einmal bei der Kriminalpolizei beworben hat«, gibt Ferner zu Protokoll. Allerdings habe Morche selbst im Wahn nie etwas von einem Mord an der Weberkirche erzählt.
Der Tod des Vaters während der Osterzeit 1962 habe Morche völlig aus der Bahn geworfen. Er habe in der elterlichen Wohnung, in der er seit der Scheidung wieder lebte, damals unter Alkoholeinfluss ziemlich randaliert. Als Leiter der Laienkapelle würde er aber immer darauf achten, dass sich Morche während ihrer Auftritte nicht betrinke.
Das sei kein Problem, Morche lasse sich von ihm »leicht führen«, zitiert Strengeld Josef Ferner im Protokoll. »Morche ist höchst unselbständig und bedarf der Führung, insbesondere dann, wenn seine Krankheit ausbricht«. Er, Ferner, habe sich seiner angenommen, »weil er mir leidgetan hat, und er hat sich auch von mir immer beraten und führen lassen. Er hat Vertrauen zu mir.«
Als bei der Befragung das Gespräch auf den Mord an Anni Hölzel kommt, erklärte Josef Ferner, dass er sich noch an die »große Aufregung« erinnere, die damals in Zittau geherrscht habe, als die Tat publik wurde. Er könne sich deshalb noch an das Datum 28. Juli 1950 genau erinnern, weil sie damals auf dem Kulturfest der IG Metall im Volkshaus gespielt hätten.
Zu jener Zeit habe er Morche noch nicht gekannt. Und später habe dieser auch nie über den Mordfall mit ihm gesprochen. Für ihn käme Morche schon deshalb als Mörder nicht infrage, weil die Tat Ende Juli erfolgt sei, also nach dem Juni, wo die Krankheitsschübe in der Regel immer auftraten. »Ich halte Karl Morche für unfähig, einen solchen Mord zu begehen.« Darum sei er von der Information »völlig überrascht und direkt sprachlos« gewesen, dass Morche sich selbst bezichtigt habe, die HO-Verkäuferin Hölzel erschlagen zu haben.
Josef Ferner macht dem Kriminalisten klar, warum Morche ausgerechnet an jenem 30. Juni ins VPKA gegangen war, um sich selbst anzuzeigen. Das weiß dieser aber bereits von Morches Arbeitskollegen.
Im Unterschied zu früheren Unternehmungen, bei denen einer aus dem Arbeitskollektiv sich um Vorbereitung