Die Entwicklung des Selbst78
• Auftauchendes Selbst und Bezogenheit (ab Geburt)
Bereits kurz nach der Geburt lassen sich Anzeichen für ein auftauchendes Selbst daran ablesen, dass der Säugling von sich aus in Kontakt zu seinen Pflegepersonen tritt und dabei zu erkennen gibt, dass er bereits zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheidet.
• Kernselbst und Selbst mit dem Anderen (ab dem dritten Lebensmonat)
Ab drei Monaten zeigt sich ein Kernselbst, das bereits Erwartungen erkennen lässt und Vertrautheit gegenüber gewohnten Personen zeigt. Es gibt auf dieser Stufe schon persönliche assoziative Verknüpfungen zwischen Gefühlen und Erlebnissen, die Geschehnissen eine persönliche Bedeutung verleihen.
• Subjektives Selbst und intersubjektive Bezogenheit (ab dem siebten Lebensmonat)
Im zweiten Lebenshalbjahr entwickelt sich das subjektive Selbst. Jetzt wird deutlicher zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterschieden. Es entsteht eine intensive Abstimmung der Bedürfnisse, Gefühlsreaktionen, der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zwischen dem Säugling und der Mutter.
• Verbales Selbst und verbale Bezogenheit (ab dem 15. Lebensmonat)
Mit der Sprachentwicklung entwickelt sich das verbale Selbst. Es ist durch die Entwicklung von Begriffen für Eigenes und Fremdes gekennzeichnet, die das Denken und die Erinnerungsprozesse verändern. Das Erleben wird jetzt sprachlich symbolisiert. Damit entsteht die Fähigkeit, sich über Menschen und Beziehungen eine Vorstellung zu machen, über sich und die anderen nachzudenken und Erkenntnisse zu gewinnen und darüber begriffliche Erinnerungen zu bilden.
• Narratives Selbst (ab dem dritten Lebensjahr)
Es stellt eine Weiterentwicklung und Differenzierung des verbalen Selbst dar, wobei das Selbstgefühl sich verstärkt aus dem Erzählen ableitet. Es ist bedeutsam, dass Narrative stets intersubjektiv geprägt sind, d. h., sie werden zwischen beiden Beteiligten ausgehandelt und sind insofern eine Ko-Konstruktion.
Die Erfahrung, die man mit sich im Spiegel des Anderen macht, bildet den Kern des Selbst. Der Andere erfüllt mithin eine strukturbildende Funktion. Dieser Prozess ist kontextabhängig. Er wird immer wieder neu gestaltet. Er ist auf die Realpräsenz des Anderen und das Zusammenpassen in der Beziehung angewiesen. Wenn diese Prozesse in der prägenden Zeit der Kindheit misslingen oder in Trennungssituationen unterbrochen werden, entstehen dysphorische affektive und dysfunktionale vegetative Selbstzustände. Sie zeigen das Misslingen der Interaktionen an. Sie werden als implizit-prozedurale Erfahrungen gespeichert, die nicht mit Begriffen verbunden sind. In der Regression können sie als Körpererinnerung wiederbelebt werden. Sie bilden die Basis für die prozedurale Übertragung, die sich in affektiven Zuständen, Inszenierungen (Enactments) oder auch in psychosomatischen Dysfunktionen zeigen.
Der soziale Aspekt des Selbstgefühls ist das Identitätsgefühl79. Es entspringt aus der Fähigkeit, die Vorstellungen über sich selbst mit den Erwartungen der Umgebung in Balance zu halten und Eigenes und Fremdes in sich zu integrieren. So entwickelt der Mensch Identität in seinen verschiedenen sozialen Funktionen, z. B. als Mutter, als Arzt, als Angehöriger einer Nation.
Früher galt Identität unter der Voraussetzung einer relativ stabilen sozialen und kulturellen Entwicklung als ein psychisches Merkmal, das mit dem Erreichen des Erwachsenenalters ausgeformt ist und überdauert. Unter den Bedingungen einer sich rasch verändernden Welt ist Identität heute, ebenso wie das Selbst, in ständiger Entwicklung begriffen. Sie wird daher mehr in Hinblick auf die Art der Abstimmung zwischen innen und außen als in Hinblick auf die Inhalte betrachtet.
Vom Selbstgefühl wird in diesem Buch das Selbstwertgefühl unterschieden. Damit ist die emotionale Beziehung zum eigenen Selbst gemeint. Sie schwankt um einen Mittelbereich, den man als Selbstachtung (oder populär als »gesundes Selbstbewusstsein«) beschreiben kann. Ein negatives Selbstwertgefühl bezeichnet man als Minderwertigkeitsgefühl, ein überzogenes als Selbstüberschätzung, wobei im psychoanalytischen Zusammenhang häufig der Begriff »Größenselbst« auftaucht. Im Verlauf der Autonomieentwicklung stabilisiert sich das Selbstwertgefühl, das zunächst von der Zufuhr durch andere und ihrer Bestätigung abhängig ist.
Entwicklung der Beziehungen
In neuerer Zeit werden die drei Entwicklungsstränge unter dem Aspekt der Objektbeziehungen80 integrativ betrachtet: Sie betreffen
• das Subjekt: Vorstellungen von sich, dem Selbst,
• die Objekte: Menschen, mit denen es Erfahrungen macht,
• die Beziehungsrepräsentanzen: das Erleben, welches das Subjekt unter dem Einfluss seiner Affekte und seiner Triebbedürfnisse in seinen prägenden Beziehungen erfährt.
Selbst und Objekte werden im seelischen Innenraum durch Affekte als angeborene und erfahrungsbedingte Gefühle miteinander verbunden. Anfangs handelt es sich um diffuse psycho-physische Gefühlszustände aus dem prozeduralen Erlebnismodus. Erst mit der Trennung zwischen Selbst und Nicht-Selbst und mit dem begrifflichen Denken und der Mentalisierung entstehen komplexe Vorstellungen. In ihnen schlagen sich Beziehungsepisoden nieder, die Selbst-, Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen.81 Diese Vorgänge sind unbewusst und bilden aus dem Unbewussten heraus die stärksten Motivationen für das Erleben und Handeln.
Die Struktur der Objektbeziehungen und der Vorstellungen, die im Inneren gebildet werden, nimmt eine Entwicklung (
• Ganz am Anfang des Lebens ist die Bezogenheit wie eine Monade strukturiert. In dieser intentionalen Entwicklung sind Beziehungen zu anderen unbewusst. Das Selbst wird nur rudimentär erlebt. Erst nach und nach entwickelt sich mit dem auftauchenden Selbst auch eine sehr diffuse Wahrnehmung für das Auftauchen des Objektes. Dann spricht man von einer (frühen) Symbiose.
• Im ersten Lebensjahr wird die Bezogenheit von Erregungen bestimmt, die an bestimmte Funktionen geknüpft sind, welche die Pflegepersonen für den Säugling haben; jede Funktion entspricht einem Aspekt des Anderen, der aber von der Person losgelöst erlebt wird. Dabei werden die verschiedenen Aspekte noch nicht als Ganzes gesehen. Dieses Stadium wird als Stadium der Teilobjektbeziehungen (Beziehung zu Teilobjekten) beschrieben. In dieser Entwicklungsphase gibt es ein Kern-Selbst. Es steht in enger Bezogenheit zum Objekt. Diese enge Bezogenheit wird als Symbiose bezeichnet. Sie wird als selbstverständlich wahrgenommen. Die Grenzen zwischen dem Selbst und den anderen werden noch nicht reflektiert.
• Im zweiten Lebensjahr wird das symbiotische Erleben aufgegeben. Es macht einem dyadischen Ich-Du-Erleben Platz, in dem die Abgegrenztheit und Eigenständigkeit des Anderen mehr und mehr anerkannt wird. Damit entsteht auch das subjektive Selbst, das in einer Dyade mit dem Objekt verbunden ist. In der Folge werden die Teilobjektbeziehungen integriert, d. h. es entstehen realistische ganzheitliche Objektrepräsentanzen.
• Ab etwa 18 Monaten erlangen Objektrepräsentanzen eine ausreichende Stabilität, sodass sie über zunehmend lange Zeit in der Erinnerung lebendig bleiben, wenn die Bezugspersonen nicht real anwesend sind. Damit wird Objektkonstanz erreicht.
• Mit dem Spracherwerb entsteht das verbale Selbst. Nun werden die Repräsentanzen begrifflich erfasst (»symbolisiert«) und im explizit-deklarativen Gedächtnis gespeichert. Sie können nun auch erinnert werden.
• Im dritten Lebensjahr wird das dyadische Erleben erweitert.