Das innere Erleben hat in dieser Zeit noch wenig Kontur und kaum Kontinuität. Es ist noch weitgehend instinktgesteuert, lässt aber erste gezielte Reaktionen erkennen, die auf ein beginnendes Selbstbewusstsein und erste Unterscheidungen zwischen dem auftauchenden Selbst und dem Anderen schließen lassen. Die Beziehung ist ganz auf die zentrale Pflegeperson ausgerichtet, in der Regel auf die Mutter. Sie wird von wechselnden affektiven Zuständen und Bedürfnissen und der zugehörigen Verwendung des mütterlichen Objektes91 zur Bedürfnisregulation beherrscht: Bei Hunger in der Selbstwahrnehmung »bedeutet« die Pflegeperson »fütterndes Objekt«, bei Angstspannung »schützendes Objekt« usw. Diese funktionsbezogenen Arten des Beziehungserlebens haben noch keinen inneren Zusammenhang. Die Pflegepersonen werden erlebt und verwendet, als handele es sich um vielfältige Teilobjekte mit verschiedenen Funktionen, die mit den entsprechenden Bedürfnissen in Verbindung gebracht werden.
In dieser Entwicklungsphase des Erlebens von Teilobjektbeziehungen bestehen zwar bereits Grundmuster der sensorischen Beziehungsregulation: Über instinktive Grundmuster der Verarbeitung von optischen, akustischen, Berührungs- und Geruchsreizen werden Kommunikation und Beziehungen zu der Pflegeperson hergestellt. Es gibt aber noch keine Repräsentanzen, d. h. keine erinnerbare Vorstellung von Beziehungserfahrungen. Die Beziehungsregulation ist darauf angewiesen, dass konkrete Personen real anwesend sind und sofort und genau passend auf die Bedürfnisse reagieren.
Störungen durch emotionale Mangelerlebnisse, z. B. durch schwere psychische Störungen der Bezugspersonen, die nicht angemessen reagieren, durch Vernachlässigung oder durch überwältigende Verlust- und Verlassenheitserlebnisse, führen zu schwerwiegenden Entwicklungsschäden. Sie manifestieren sich in Defiziten von strukturellen Fähigkeiten und Störungen des Selbst- und Körpergefühls, des Gefühls der Daseinsberechtigung, des Interesses am Leben und der Welt, des Realitätsbezuges, der Kontaktfähigkeit (Näheregulation), des Nähe-Distanz-Konflikts und der Bindungssicherheit. Daraus resultieren später Strukturstörungen, insbesondere schizoide Persönlichkeitsstörungen und Erlebnismodi. Es wird angenommen, dass solche Störungen in der frühen Entwicklung auch den psychischen Anteil bei der Entstehung von Psychosen ausmachen.
2.3.2 Die frühe Individuationsentwicklung92
Differenzierung und Integration ab dem zweiten Lebenshalbjahr
Mit sechs bis neun Monaten beginnt mit der Ablösung aus der engen symbiotischen Verschränkung die Individuationsentwicklung. In der Differenzierungsphase vollzieht der heranwachsende Säugling nun schrittweise emotional nach, was er bis dahin nur mehr oder weniger rudimentär erfassen konnte: Dass er ein von seiner Umgebung getrenntes, »gesondertes«, »besonderes« Wesen ist. Nun wird er gewahr, dass die Pflegepersonen, auf die er angewiesen ist, vom eigenen Selbst getrennte Personen mit eigener Existenz und eigenem Willen sind. Das Erleben von oralen und emotionalen Entbehrungen führt nun zum Bewusstwerden der Getrenntheit. Damit entwickelt sich der Bindungskonflikt als depressiver Grundkonflikt zwischen Sehnsucht nach einem idealen Objekt und Objektenttäuschung. Der Säugling muss und kann erkennen, dass Objekte nicht selbstverständlich zur Verfügung stehen und er die eigenen Bedürfnisse regulieren muss.
Diese Wahrnehmungen verstärken die Verlassenheitsangst, die sich durch Wut, oral getönte Aggressivität und zerstörerische Impulse gegen die Pflegeperson äußert. Diese Gefühle werden durch Projektion auf die Pflegepersonen bewältigt, d. h. statt eigene Wut zu erleben, wird der andere feindselig erlebt. Indem die feindselig erlebten anderen zu Verfolgern werden, wird die Verlassenheitsangst in Verfolgungsangst umgewandelt. Nach und nach entstehen durch Spaltung zwei polare Vorstellungen: die von einer »nur-guten« Beziehung bzw. einem »nur-guten« Objekt für Lust- und Geborgenheitserleben und die von einer »nur-schlechten« Beziehung bzw. einem »nur-schlechten« Objekt für Frustrations- und Verfolgungserleben.
Die Welt und das innere Erleben werden dadurch in »nur-gut« für Sicherheit und Geborgenheit, Befriedigung, Verfügbarkeit und Anwesenheit und in »nur-schlecht« für Hilflosigkeit, Frustration, Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit polarisiert. Es entsteht eine gespaltene Welt.93 Das ist die schizoid-paranoide Position 94 nach Melanie Klein. Sie ist für die frühe Individuationsentwicklung prägend. Durch die Polarisierung entsteht der Wechsel zwischen dem Gewahrwerden der Getrenntheit und ihrer Verleugnung durch Verschmelzungswünsche, der das beginnende zweite Lebensjahr beherrscht.
Wiederannäherung
Die Verarbeitung dieser Erlebnisposition ist die Aufgabe der Übungs- und Wiederannäherungsphase im zweiten Teil der Individuationsentwicklung, die im zweiten Lebensjahr stattfindet. Sie wird durch eine gleichbleibende, »haltende« Zuwendung der Pflegepersonen, also durch einfühlsame und geduldige Zuwendung gefördert und führt in der normalen Entwicklung dazu, dass die physische und psychische Getrenntheit von der Mutter anerkannt und sie als Person außerhalb des eigenen Selbst erlebt werden kann. Damit konsolidiert sich auch das subjektive Selbst.
Am Ende des ersten Lebensjahres sind die Pflegepersonen zwar schon unverwechselbar geworden, aber erst ab etwa 18 Monaten gibt es konstante Vorstellungen von der eigenen Person und von den Pflegepersonen, die auch erhalten bleiben, wenn diese nicht real anwesend sind. Das hängt auch damit zusammen, dass um diese Zeit die Sprachentwicklung beginnt und das Kind in die Lage kommt, Begriffe als sprachliche Symbole für Beziehungen zu bilden. Die Erfahrungen werden nun im episodischen, explizit-deklarativen Gedächtnis abgelegt und können als Erinnerung abgerufen werden.
Nun wird die Verlassenheits- und Verfolgungsangst geringer. Die Spaltung in »gute« und »schlechte« Beziehungen wird vermindert. Die eigene Person und die Menschen der Umwelt werden jetzt ganzheitlicher und realistischer wahrgenommen, d. h. die befriedigenden und frustrierenden Aspekte des Selbst und der Objekte werden stärker zusammengefügt und als Eigenschaften erlebt, die in einer Person vereint sind. Dadurch entstehen umfassende, realistische Selbst- und Objektvorstellungen. Mit der Fähigkeit zur Ambivalenz gegenüber den Bezugspersonen werden Gut und Schlecht zunehmend integriert und die Spaltungswelt überwunden. Zugleich wird die Verfolgungsangst in Sorge um den anderen und Angst, ihn zu verlieren, umgewandelt. Damit wird die depressive Position95 erreicht. Diese ist mit dem Konflikt verbunden, den verfolgend erlebten, frustrierenden »Teil« der Objekte angreifen und zugleich den befriedigenden erhalten und vor dem Angriff schützen zu wollen. Damit entsteht eine Besorgnis um die Bezugsperson. Sie fördert die weitere Integration von Gut und Schlecht.
Wenn die Bewältigung der Individuationskrise scheitert, bleiben Verlassenheits- und Verfolgungsängste bestehen und die psychischen Funktionen und das Selbstgefühl bleiben an die reale Anwesenheit konkreter Personen gebunden. Damit wird der depressive Grundkonflikt fixiert. Es entsteht die für das niedere Strukturniveau typische Objektangewiesenheit, die sich darin äußert, dass die Betroffenen von Fragmentierungsängsten bedroht werden, wenn der schützende Andere nicht anwesend ist. Das Erleben des anderen, des Du, wird durch erneute Regression in die gespaltene innere Welt wieder in »nur-gute« und »nur-schlechte« Teilobjekt-Funktionen aufgespalten: Das ganzheitliche Erleben, das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit der eigenen Person und der äußeren Objekte, das anfangs noch sehr unsicher ist, geht wieder verloren. Damit entsteht die Disposition für Persönlichkeitsstörungen auf dem niederen Strukturniveau, insbesondere für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (
2.3.3 Die Autonomieentwicklung
War das Kind in der Wiederannäherungsphase im zweiten Lebensjahr noch auf die Möglichkeit der Rückkehr der Pflegeperson angewiesen, um seine Getrenntheit ertragen zu können, so entwickelt