Der Ödipuskomplex
Der konflikthafte Mikrokosmos wurde von Freud101 zuerst als phallische Rivalität des Buben mit dem Vater um die Mutter beschrieben und nach dem Vorbild der griechischen Sage als Ödipuskomplex bezeichnet. Er stellte ursprünglich den Angelpunkt der psychoanalytischen Theorie dar.
Das ödipale Erleben hat mehrere Aspekte:
• Es ist ein triangulärer Konflikt zwischen dem Selbst und zwei Liebesobjekten; diese Liebesobjekte sind verschiedengeschlechtlich, zumeist Vater und Mutter, und zwischen beiden wird eine genital-sexuelle Liebe vorausgesetzt und unbewusst vorgestellt.
• Es ist ein libidinöser Triebkonflikt, d. h. ein Konflikt zwischen Liebe und Hass: Das eine Objekt wird begehrt, dem Anderen wird Vernichtung gewünscht. Intrapsychisch handelt es sich um einen Trieb-Überich-Konflikt, der ödipale Schuldgefühle erzeugt.
• Der Triebkonflikt vollzieht sich im Bereich der kindlichen Phantasie, d. h. es besteht eine realistische Einschätzung darüber, dass weder das Liebesbegehren noch die Vernichtungswünsche verwirklicht werden. Eine Realisierung, d. h. eine Umsetzung innerer Phantasien in äußere Wirklichkeit, kommt einer Zerstörung dieser fragilen Entwicklungsposition gleich und bedeutet eine psychische Katastrophe. Hier liegt die Wurzel für die lebenslang zerstörerisch wirkende Kraft von sexuellen und aggressiven Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.
• Der vollständige Ödipuskomplex hat zwei Seiten: Im »positiven« Ödipuskomplex wird der gegengeschlechtliche Elternpart begehrt, der gleichgeschlechtliche bekämpft; im »negativen« ist es umgekehrt. So besteht der positive Ödipuskomplex des Mädchens aus der Rivalität mit der Mutter um den Vater, der negative aus der Liebe zur Mutter und dem Ausschluss des Vaters.
Der Ödipuskomplex entfaltet sich gegen Ende des fünften Lebensjahrs zu seiner vollen Blüte. Wenn das Kind begreift, dass es von der genitalen Liebe zwischen beiden Eltern ausgeschlossen ist und seine ödipalen Triebbedürfnisse nicht verwirklichen kann, beginnt es zu verzichten und seine ödipale Erlebnisweise durch seine Hinwendung zum gleichgeschlechtlichen Elternteil und in Identifikation mit ihm zu überwinden.
Beim Jungen wird dabei der Wunsch, den Vater als Rivalen zu beseitigen, durch den Wunsch ersetzt, so sein zu wollen wie er. Nun kann der Bub sich im Begehren nach der Frau mit seinem Vater identifizieren, kann die Objektwahl von ihm übernehmen und braucht ihn nicht mehr zu bekämpfen und zu fürchten. Entsprechendes gilt für das Mädchen. Es fühlt sich nun wie die Mutter als kleine Frau, die fähig ist, einen Mann – den Vater – zu lieben.
In der homosexuellen Entwicklung, d. h. bei homosexueller Geschlechtsidentität, wird der Ödipuskomplex durch eine Identifizierung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil im Verlangen nach dem gleichgeschlechtlichen gelöst. Diese Theorie, welche Homosexualität als psychosexuelle Inversion betrachtet, gilt allerdings als umstritten (
Der Ödipuskomplex wird also durch Liebe und Identifizierung gelöst. Freud sprach vom »Untergang des Ödipuskomplexes« und sah darin den Abschluss der infantilen (Sexual-)Entwicklung. Auf diese Weise entsteht eine Absicherung der Geschlechtsidentität und die Fähigkeit zum Leben in sozialen Gruppen.
Fixierungen der ödipalen Entwicklung führen dagegen zu einer schuldhaften Verarbeitung der sexuellen Identität oder werden durch Regression oder Reaktionsbildungen abgewehrt. Sie bilden die Disposition zur Entstehung von Konfliktstörungen auf höherem Strukturniveau (
2.3.6 Entwicklungsaufgaben im weiteren Lebensverlauf
Eine angemessene Verarbeitung der so weit durchlebten Entwicklungsphasen mit ihren Krisen und Konflikten bewirkt, dass die Persönlichkeit nun über umfassende Möglichkeiten verfügt, die anstehenden Lebensaufgaben zu bewältigen. Damit ist das reife Strukturniveau der Persönlichkeitsentwicklung erreicht, das nicht von neurotischen Persönlichkeitsmustern geprägt ist.
Mit der Lösung des Ödipuskonfliktes ist also der erste Zyklus der Entwicklung abgeschlossen. Die psychische und psychosoziale Entwicklung ist damit aber selbstverständlich nicht beendet. Denn nur scheinbar ist die Persönlichkeit ein Bündel von überdauernden Eigenschaften; tatsächlich befindet sie sich in einem ständigen Entwicklungsprozess, einem Prozess des Ausgleichs zwischen äußeren Anforderungen und inneren Möglichkeiten. Dabei bilden die ersten Konfliktlösungen die Basis, auf die im späteren Leben immer wieder zurückgegriffen wird und deren Spuren im späteren bewussten Verhalten und vor allem im unbewussten Erleben immer wieder in mehr oder weniger offensichtlicher Form in Erscheinung treten.
Auf jeder Stufe der weiteren Entwicklung werden die frühen Konfliktlösungen angesichts neuer Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben einer Revision unterzogen und lebenslang umgestaltet. Um die Herausforderungen zu bestehen und einen Entwicklungszuwachs erreichen und halten zu können, braucht der Heranwachsende eine altersangemessene Unterstützung. Dabei können frühere Mängel ausgeglichen und Entwicklungsrückstände aufgeholt werden. Behinderungen und mangelnde Unterstützung können hingegen Überforderung und Scheitern bahnen, Fixierungen verstärken und Regressionen einleiten.
Latenz und Adoleszenz
Mit dem Ausklingen der frühen Kindheit gleitet der Entwicklungsprozess in eine Periode der relativen Ruhe über, die als Latenz bezeichnet wird. Es ist eine Epoche der Übung und der Bewährung im Umgang mit Aufgaben, Belastungen und Krisen. In dieser Zeit geht es weniger um Neuerwerb als um die Festigung und Erweiterung des Bestehenden. Es ist die Schulzeit, in der mit der Ausdifferenzierung von sozialen Fertigkeiten, Wissen und Kenntnissen, mit der Entwicklung von Geschicklichkeiten und Begabungen die Weichen für spätere Lebensformen gestellt werden.
Sie mündet mit dem sexuellen Reifungsschub der Pubertät in die Adoleszenz102: Jetzt geht es um die verstärkte Wahrnehmung von sexuellen Triebbedürfnissen, die Veränderung des Körperbildes und eine endgültige Ausformung der Geschlechtsidentität. Parallel entstehen die Suche nach der persönlichen sozialen Rolle und die zunehmende Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben in Übereinstimmung mit oder in Abgrenzung von familiären und sozialen Erwartungen. Die Stabilisierung der Identität ist die wichtigste Aufgabe dieses Entwicklungsabschnitts. In der Wahrnehmung der eigenen Person, der anderen Menschen, des Lebens, stellen sich neue Perspektiven ein. Die Bedeutung der Familie tritt gegenüber der von Gleichaltrigen zurück. Die Gegenwartsorientierung der Kindheit weicht der Zukunftsorientierung der Jugendzeit.
In der Spätadoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter folgt die Lösung vom Elternhaus und aus den Primärbeziehungen. An die Stelle des Bedürfnisses, in Gruppen zu sein, tritt nun zusehends das Bedürfnis, die eigene Individualität zu entwickeln. Dieses Alter ist mit Neubindungen an Personen, Ziele und Werte verbunden, mit Partnerwahl und Berufswahl.
Entwicklungspsychologisch sind die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter eine kritische Phase. Die Änderungen im Selbsterleben und in den Beziehungen, Lösung und Neubindung greifen tief in das Gefüge der Persönlichkeit ein und führen zu einer alterstypischen Labilisierung mit Erschütterungen und Krisen. Deshalb gilt diese Lebensphase auch als »normative Identitätskrise«103. Dabei brechen oft alte Wunden der Kindheitsentwicklung wieder auf und bewirken eine dauerhafte Destabilisierung und neurotische Dekompensation. Nicht nur Essstörungen, allen voran die Anorexia nervosa (»Pubertätsmagersucht«), können die Folge sein, auch Zwangsstörungen, schizoide Störungen, Depressionen oder organische Erkrankungen wie die Neurodermitis treten in diesem Alter oft erstmals in Erscheinung.