Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
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Es entstehen Triaden.

      • Im vierten Lebensjahr wird diese triadische Beziehungsform zum Dreieck ausdifferenziert. Nun wird anerkannt, dass auch andere Menschen Beziehungen zueinander haben. Es entsteht die Vorstellung »Ich in der Beziehung zu Mutter und Vater, die miteinander in Beziehung stehen«. Das ist die Urform des sozialen Erlebens, die auch mit dem Prozess der Mentalisierung verknüpft ist.

      • Mit dem Schulalter entstehen Beziehungsnetze, in denen sich der Mensch als Teil eines sozialen Gefüges erlebt und beginnt, über eine wachsende soziale Kompetenz zu verfügen.

      Entwicklung der Geschlechtsidentität82

      Aus psychodynamischer Sicht betrachtet man die Entwicklung der Geschlechtsidentität als einen stufenweisen Entwicklungsprozess83. Dabei unterscheidet die Sexualforschung zwischen der biologischen Kategorie Sex(ualität) und der psychosozialen Kategorie Gender.84 Damit wird insbesondere anerkannt, dass die Geschlechtsidentität starken sozialen und kulturellen Einflüssen unterliegt. Was weiblich ist und was männlich, befindet sich – unabhängig von den biologischen Gegebenheiten – im Wandel. Dieser Prozess hat im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu einer Diversifizierung des sexuellen Erlebens, Verhaltens und der sexuellen Lebensweisen geführt, so dass immer häufiger von »Sexualitäten« gesprochen wird.

      Abb. 2.2: Entwicklung der Objektbeziehungen

      Am Anfang der sexuellen Entwicklung steht eine unbestimmte Ahnung der Geschlechtlichkeit, die schon von Geburt an besteht. Das Ergebnis ist die reife Geschlechtlichkeit, die mit der Adoleszenz erreicht wird. Die geschlechtliche Identität entwickelt sich von da an entlang der Linie der Altersprozesse weiter und tritt in altersspezifischen Formen in Erscheinung. So gibt es spezifische Varianten im frühen und späteren Erwachsenenalter, in der Lebensmitte und im Alter.

      Der Mensch wird mit einem Grundempfinden geboren, ein sexuelles Wesen zu sein. Dieses Empfinden kann man als sexuelle Protoidentität bezeichnen. Freud nahm eine bisexuelle psychische Konstitution als normal an85. Danach hat das Kind anfangs keine Vorstellung von unterschiedlichen Geschlechtern. Doch von Anfang an spielt das biologische Geschlecht eine wichtige Rolle für die Entwicklung. Prägend sind dabei die Interaktionen mit den Eltern, in denen sie die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen vermitteln, unter denen sie sich selbst entwickelt haben. Sie reagieren auf das biologische Geschlecht und die Ähnlichkeit oder Andersartigkeit im Vergleich mit ihnen selbst. Sie kommentieren das Verhalten des Kindes im Kontext mit seinem biologischen Geschlecht und bestärken geschlechtskonformes Verhalten, während sie Abweichungen ablehnen.

      Diese Vorgänge vermitteln sich anfangs prozedural durch den Umgang mit dem Kind und haben noch keine Begriffe. So entsteht im Laufe der Zeit ein basales Gefühl dafür, ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Mit der Entwicklung der Sprache, etwa mit 18 Monaten, findet dieses Gefühl erstmals in Begriffen und Vorstellungen Ausdruck. Damit entsteht ein sehr basales Konzept für das eigene Geschlecht, die sexuelle Kernidentität. Durch Erfahrungen, die man nun »als Junge« oder »als Mädchen« macht, werden Vorstellung über das gewünschte Verhalten verinnerlicht. Es entsteht eine Vorstellung über eigenes weibliches oder männliches Verhalten und über dazugehörige Rollenerwartungen. Durch diese Mentalisierung wird dabei eine Geschlechtsrollenidentität ausgeformt. Sie wird zum Bestandteil des Selbstbildes, d. h. der Selbstrepräsentanz als Junge oder Mädchen, des sexuellen Selbst.

      In der ödipalen Entwicklung wird sie durch Identifizierungen mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und dessen Partnerwahl zu einem dauerhaften Bestandteil des Identitätsgefühls. Der Junge stellt sich vor, als Mann eine Frau zu lieben wie der Vater die Mutter, während das Mädchen wünscht, als Frau einen Mann zu lieben wie die Mutter den Vater. Dieses Ergebnis der ödipalen Identifizierung ist die psychologische Wurzel sexueller Orientierung. Bei einer heterosexuellen Entwicklung wird sie auf das andere Geschlecht ausgerichtet, indem gleichgeschlechtliche Inhalte verdrängt werden. Mit der Pubertät erhält diese Orientierung ihre endgültige Gestalt.

      Entwicklung der sexuellen Identität86

      • Sexuelle Protoidentität (Proto-Geschlechtsidentität)

      • Sexuelle Kernidentität (core gender identity)

      • Geschlechterrollen-Identität (gender role identity)

      • Sexuelle Orientierung (Geschlechtspartnerorientierung, Objektwahl-Identität, sexual partner orientiation)

      • Reife Geschlechtsidentität

      Bei der homosexuellen Entwicklung87, bei der beim Jungen ebenfalls eine typisch männliche und beim Mädchen eine typisch weibliche Kernidentität besteht, sind die angeborenen Präferenzschemata für erotisches Begehren und sexuelle Erregung auf das gleiche Geschlecht ausgerichtet. Dadurch entsteht ein Identitätsdilemma, das die gesamte Entwicklung beeinflusst. Es besteht darin, dass Entwürfe und Erwartungen der Umgebung nicht zu der mehr oder weniger bewusst gespürten homosexuellen Konstitution passen. Daraus entwickelt sich eine zumeist konflikthafte Geschlechtsrollenidentität, die erst im späteren Leben mit einem gelungenen Coming-out normalisiert werden kann.

      Der homosexuelle Ödipuskomplex führt zu einer Objektwahlidentität, bei welcher der homosexuell konstituierte Junge sich mit der Objektwahl der Mutter identifiziert und den Vater zum bevorzugten kindlichen Liebesobjekt wählt. Das Mädchen entwickelt sich analog. Homosexuelle Männer fühlen sich also als Mann, der einen Mann begehrt, homosexuelle Frauen als Frau mit Vorliebe für Frauen. Aber die Männer neigen dazu, sich in ihrem Werben um ihr männliches Liebesobjekt mit ihrer Mutter zu identifizieren, was eine typische Anhänglichkeit an sie begründen kann. Homosexuelle Frauen entwickeln in ihrer Objektwahl entsprechend neben explizit weiblichen auch männliche Interessen.

      Jede Lebensphase hat typische Entwicklungsaufgaben, -krisen und -konflikte (image Tab. 2.1). Sie werden, je nach Entwicklungsstand, verschieden verarbeitet.

      Im ersten Lebenshalbjahr ist die psychische Entwicklung des Menschen von intentionalen Grundbedürfnissen nach Bezogenheit, Sicherheit und Geborgenheit geprägt. In der engen psychischen Verbundenheit mit der Pflegeperson drängen sie zur Befriedigung. Es besteht die Entwicklungsaufgabe, Nähe und Distanz zu regulieren und Beziehung herzustellen. Diese Zeit ist vom Grundkonflikt zwischen Nähewunsch und Fragmentierungs- bzw. Verschmelzungsangst geprägt.88 Für dieses frühe dyadische Erleben wird traditionell die Bezeichnung Symbiose89 verwendet, als könne nicht zwischen dem auftauchenden Selbst und den anderen unterschieden werden.

      Aus der Säuglingsforschung90 (image Kap. 2.2.1) weiß man aber, dass Säuglinge »kompetent« geboren werden und schon sehr früh zwischen sich selbst und dem Anderen unterscheiden. Es besteht aber sicher ein nur sehr rudimentäres Bewusstsein für die eigene Person und eine selbstverständliche Verbundenheit mit der Bezugsperson als Objekt, das die Bedürfnisse stillt und das Selbst vor Reizen schützt.

Images

      Den intentionalen Bedürfnissen nach Sicherheit durch Nähe, Fürsorge, Kommunikation und Geborgenheit wird eine triebhafte Qualität zuerkannt, d. h. sie beruhen auf einer konstitutionellen Grundlage. Die passende Beantwortung und Befriedigung ist der Kern