Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
Скачать книгу
und bilden Elemente im verkörperten Selbst und der Körpererinnerung (Embodiment). Wenn diese Prozesse sich wiederholen und die kognitiven Strukturen im Gehirn ausreifen, bilden sich im Psychischen äquivalente Begriffe für die Affekte, die Affektrepräsentanzen. Die Affekte werden »symbolisiert«. Sie können »gelesen« oder »begriffen« und sprachlich mitgeteilt werden. Defizite in dieser Entwicklung führen zur Alexithymie. Der Begriff beschreibt die Beeinträchtigung oder Unfähigkeit, die eigenen Affekte (und die anderer) zu »lesen«, und in die Emotionsregulation einzubeziehen. Sie wurde zuerst von der französichen psychoaomatischen Schule bei Psychosomatosen beschrieben67 (image Kap. 12).

      Ein bedeutender Entwicklungsschritt ist die Verknüpfung zunächst unverbundener gegensätzlicher Affekte zu einem realitätsnahen Gesamterleben. So ist die innere Welt in der intentionalen Entwicklungsphase, der schizoid-paranoiden Position68 der Frühentwicklung durch die Aufteilung in »nur-gute« und »nur-böse« Beziehungsrepräsentanzen geprägt. Die Überwindung dieser Spaltung ist mit der Entwicklung der Fähigkeit verbunden, ambivalente Gefühle gegenüber sich selbst und anderen zu ertragen und ein realistisches Bild von ihnen zu entwickeln.

      Für das Verständnis der psychogenen Störungen ist die Angstentwicklung besonders wichtig, die mit den typischen Entwicklungskrisen entsteht:

      • Die basalen, d .h. entwicklungsdynamisch »frühen«, »unreifen« Ängste sind Verlassenheits-, Verschmelzungs- und Verfolgungsängste sowie die Angst um das Selbst (Desintegrations- und Fragmentierungsangst). Man kann sie als paranoide Ängste zusammenfassen.

      • In den mittleren Phasen der Kindheitsentwicklung dominieren Ängste vor Trennungen und Objektverlust, d. h. die depressiven Ängste .

      • Die späten Phasen der Kindheitsentwicklung werden von Angst vor Liebesverlust, Straf- und Gewissensangst begleitet, den typischen neurotischen Ängsten der psychoanalytischen Krankheitslehre.

      Entwicklung des Denkens

      Das Denken ist eine der zentralen Ichfunktionen. Aus psychoanalytischer Sicht ist es das Ergebnis interaktioneller Prozesse auf der Basis der neurophysiologischen Reifung. Die psychoanalytische Theorie des Denkens, die auf Wilfried Bion69 zurückgeht, beschreibt die Entwicklung des Denkens als einen intersubjektiven Prozess in den frühen Beziehungen. Die bis dahin ruhende Denkfunktion wird durch interaktionelle Erfahrungen aktiviert.

      Danach wird das Kind am Anfang des Lebens von ungeformten mentalen Inhalten und Phantasien bedrängt. Um sie zu bewältigen, werden diese »in« die Mutter projiziert, die sie im Rahmen einer projektiven Identifizierung (image Kap. 2.1.2) in sich aufnimmt und wirken lässt. Sie »verträumt« das ungestaltete psychische Material, d. h. sie verarbeitet es, indem sie es mit eigenen Vorstellungen und Gefühlen verknüpft, und gibt ihm eine erträgliche Gestalt. Aus dem Unerträglichen werden dadurch erträgliche Erfahrungen, die sie dem Kind zurückgibt.

      Dieser Vorgang wird als Alphafunktion der Mutter oder als Transformation des rohen psychischen Materials bezeichnet. Die Mutter fungiert dabei als Container für unbearbeitete Inhalte (Beta-Elemente) ihres Kindes. In dem Maße, wie sie die Spannungen des Kindes ertragen und sich auf die Gefühlszustände einlassen kann, ohne sich davon überwältigen zu lassen, kann sie die gesunde Entwicklung des Kindes fördern. Dabei ist die zutreffende Einfühlung der zentrale Faktor. Das Kind kann sich auf Dauer mit der Alphafunktion der Mutter identifizieren und beginnen, die Transformationen selbst zu leisten. Auf diese Weise entsteht als Brücke zwischen dem Selbst und der abwesenden Mutter das Denken.

      Es versteht sich nahezu von selbst, dass diese Prozesse an eine sichere Bindung zwischen dem Kind und seiner Mutter gebunden sind. Das gilt auch für die psychotherapeutische Behandlungssituation, in der ein Therapeut eine ähnliche Funktion erfüllt. Er kann ein Verständnis für die innere Situation des Patienten entwickeln und ihm dazu verhelfen, sie auch selbst anzunehmen und zu ertragen. Dazu muss er allerdings das Unerträgliche in sich aufnehmen und verarbeiten.

      Entwicklung des Bindungsverhaltens

      Bindung gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Annahme, dass der Mensch mit einer angeborenen Tendenz zur Welt kommt, die Nähe anderer zu suchen und Bindungen zu anderen herzustellen. Danach ist das Bindungssystem ein eigenständiges Motivationssystem neben anderen wie Aggression, Sexualität oder Affekt. Es wird in Gefahrsituationen aktiviert und ruft spezielle, konstitutionell mitgebrachte Verhaltensweisen hervor, das Bindungsverhalten.

      Die Bindungstheorie stellt mit der Annahme, dass viele Störungen im Erwachsenenalter auf realen traumatischen Verlust- und Trennungserfahrungen in der vulnerablen frühen Kindheit beruhen, einen Gegenpol zur traditionellen Psychoanalyse dar. Diese war lange fast ausschließlich auf das innerseelische Phantasieleben ausgerichtet. Zu den Grundannahmen gehört, dass die Bezugspersonen, im Prinzip also die Mutter, für die Stabilität und Entwicklung unverzichtbar sind und aufgesucht werden, um Spannungen wie Angst und Schmerz zu bewältigen. Traumatische Störungen des Bindungsbedürfnisses führen zu einem unsicheren Bindungsverhalten. Sie geben die Basis für neurotische Entwicklungen ab, insbesondere für Strukturstörungen.

      Das Bindungsverhalten umfasst instinkthaft vorgegebene Kommunikationsmuster wie Blickkontakt, Mimik, Zappeln oder Schreien, mit denen Aufmerksamkeit, Zuwendung und Nähe zu anderen hergestellt und Sicherheit erzeugt werden sollen. Je nach den Erfahrungen, die der Säugling dabei mit seinen Bezugspersonen macht, entstehen spezifische Bindungsstile (image Übersicht).70

      Stile des Bindungsverhaltens im Kindesalter71

      • Sichere Bindung

      Kinder, die hinreichende Feinfühligkeit erfahren haben, vermissen bei Trennungen die Mutter, suchen sie und zeigen ihren Schmerz bei ihrer Rückkehr.

      • Unsicher-vermeidende Bindung

      Kinder, die wenig Einfühlung und Fürsorge kennen, scheinen Trennungen wenig zu beachten. Sie reagieren bei Rückkehr der Mutter mit Ablehnung.

      • Unsicher-ambivalente Bindung

      Kinder, deren Bindungspersonen wenig vorhersehbar reagieren, sind während der Trennung hoch erregt. Wenn die Mutter zurückkommt, zeigen sie heftig ablehnendes Verhalten, in dem man ihr Unglück spüren kann.

      • Desorientiert-desorganisierte Bindung

      Als Folge von traumatischen Interaktionserfahrungen mit Bindungspersonen bildet sich kein durchgängiges Muster im Umgang mit Bindungsangst heraus. Auf Trennungen reagieren die Kinder mit Verwirrung.

      Das Bindungsverhalten durchläuft in der intentionalen Entwicklung der ersten zwölf Lebensmonate eine besonders sensible Phase. In dieser Phase ist der Säugling darauf angewiesen, dass die Pflegepersonen mit Feinfühligkeit auf seine intentionalen Bindungsbedürfnisse reagieren, um einen sicheren Bindungsstil zu entwickeln. Wenn die Entwicklung in dieser Zeit grobe Störungen erfährt, weil die Pflegepersonen z. B. krank, abwesend, sehr depressiv, ängstlich oder selbst unsicher gebunden sind, dann entwickeln sich unsichere Bindungsstile. Darin zeigen sich paranoide Ängste, die nicht verarbeitet werden können. Bei groben Beeinträchtigungen bildet sich die Disposition für eine schizoide Persönlichkeitsentwicklung mit überdauerndem Misstrauen und Nähe-Distanz-Problemen in den späteren Lebensjahren72.

      Nach der störanfälligen Frühentwicklung bleibt das Bindungsverhalten bei normaler Entwicklung in den folgenden Jahren relativ stabil. Es ist anfangs noch recht diffus und richtet sich im Verlauf der ersten drei Lebensjahre mehr und mehr auf bestimmte Personen aus, bis einige wenige feste Bindungen bestehen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung treten zielgerichtete,