Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
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die nun mit dem Laufenlernen auch erlaubt, sich räumlich zu trennen. Gleichzeitig beginnt die Beherrschung der Ausscheidungsfunktionen, also die Sphinkterkontrolle. Wenn die Pflegepersonen nicht erreichbar sind, können nun Erinnerungen an sie tröstend wirken: Die Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen werden stabiler. Sie werden inzwischen im Zusammenhang mit dem Spracherwerb auch sicherer in Begriffen symbolisiert.

      Der Autonomiekomplex

      Der Grundkonflikt dieser Entwicklungsphase ist der Autonomiekomplext96. Er wird auch als Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt beschrieben. Er ist durch die unauflösbare Widersprüchlichkeit (Antinomie) zwischen Unabhängigkeit und Kontinuität in den Primärbeziehungen gekennzeichnet. Er bestimmt das dritte Lebensjahr und entsteht mit dem Zuwachs an Funktionsreifung. Die Objektabhängigkeit der vorangehenden Entwicklung beginnt sich zu überleben und wird dem heranwachsenden Kleinkind immer weniger gerecht. In dieser Zeit vollzieht sich die Reifung motorischer und kognitiver Funktionen. Das Kind lernt planend zu denken, zu handeln und zu begreifen, was im anderen vorgeht, und sich eine Theory of Mind zu bilden. Es vollzieht sich ein Wechsel von der Dominanz der passiven Versorgungswünsche hin zu selbstbehauptend-expansiven oral-aggressiven und anal-aggressiven Bedürfnissen.97 Der Wille zur Abgrenzung und Selbstbehauptung manifestiert sich nun als Trotz (Stuhlverhaltung) und räumliches Distanzschaffen (Weglaufen).

      Dem Trennungs- und Autonomiewunsch stehen aber Trennungs- und Verlustängste entgegen. Daraus entsteht das Konflikthafte des Autonomiestrebens. Es ist mit der Phantasie verbunden, von der Bezugsperson entweder festgehalten oder fallengelassen zu werden, auf jeden Fall aber in der noch unsicheren Autonomie bedroht zu sein. Auf diese Weise entsteht ein Konflikt zwischen dem Impuls, sich zu trennen, um Autonomie zu erringen und sie zu verteidigen, und der Angst, damit endgültig Versorgung und Unterstützung zu verlieren oder das versorgende Objekt durch Trennung zu vernichten.

      Die Aufgabe des Kleinkindes im dritten Lebensjahr besteht vor allem in der Überwindung dieser Trennungs- und Selbstbehauptungsambivalenz, in der Stabilisierung der Regulation des Selbstwertgefühls und in der Überwindung der passiven Versorgungswünsche der frühen Entwicklung. Diese Aufgabe ist mit der Entwicklung der Fähigkeit verbunden, während des Alleinseins die Erinnerung an den abwesenden Anderen aufrechtzuerhalten. Sie setzt eine Erziehung voraus, in der die Familie Toleranz für die Ambivalenz der Verselbstständigungsprozesse aufbringt.

      Wenn der Autonomiekomplex gut verarbeitet wird, entsteht die Fähigkeit zum Alleinsein. Sie beruht darauf, dass das heranwachsende Kind nun eine innere Beziehung zur Bezugsperson bewahren kann, wenn es verlassen worden ist. Pathologische Lösungen führen dagegen zu einer Regression und Fixierung des Abhängigkeitserlebens und zur selbstverleugnenden Anpassung an die Bedürfnisse der anderen. Die Identität wird dabei nicht genügend entwickelt. Es entsteht die für narzisstische und depressive Patienten typische Objektabhängigkeit und ein falsches Selbst98.

      Die Objektabhängigkeit zeigt sich darin, dass die Betroffenen sich nicht mehr geliebt oder in ihrem Selbst bedroht fühlen, wenn der Andere nicht da ist. Das falsche Selbst äußert sich in dem vorbewussten Gefühl, gar nicht das eigene Leben, sondern das eines anderen zu leben. Aber statt einen eigenen Weg zu wagen, wählen Menschen mit gescheiterter Autonomieentwicklung immer wieder Partner, die sie nach dem Vorbild der bevormundend erlebten Mutter der Autonomieentwicklung für ihre Stabilität einsetzen können. Diese Konfigurationen bilden die Basis für die präödipale Pathologie auf dem mittleren Strukturniveau (image Kap. 4.3).

      Aus der Dynamik der Autonomieentwicklung ergibt sich eine differenziertere Beziehung zu den wichtigen Personen der Kindheit. Sie werden immer deutlicher in ihrer unterschiedlichen Identität erlebt und sind immer weniger austauschbar. Eigenarten an ihnen werden differenzierter wahrgenommen und geschätzt. Im Trieberleben entfalten sich neben analen Regungen nun auch phallisch-narzisstische, exhibitionistische und Geltungsbedürfnisse. Dabei handelt es sich um Vorformen des kindlichen sexuellen Begehrens und des Machtstrebens. Beide werden von Angst vor Liebesverlust, einer Variante der Strafangst, und phallischem Neid (sog. Gebär- bzw. Penisneid) begleitet. Nun werden auch der Geschlechtsunterschied und die eigene Geschlechtsidentität stärker wahrgenommen. Damit polarisiert sich die Beziehung zu Frauen und Männern. Die Selbst- und Objektvorstellungen werden dadurch weiter gefestigt.

      Die Triangulierung

      Die (sog. »frühe«) Triangulierung99 entwickelt sich im dritten Lebensjahr aus der Autonomieentwicklung. Jetzt erlebt das Kind, dass man sich verschiedenen Zweierbeziehungen zur gleichen Zeit zuwenden kann. Es handelt sich zunächst um eine triadische Beziehungsstruktur. Maßgeblich dafür ist die Abwendung von der Mutter und der Zuwendung zum Vater, der jetzt als Dritter attraktiver erscheint als die Mutter und eine immer stärkere Bedeutung erhält. Die präödipale Vatersehnsucht100 wird aber aus Angst, die Mutter mit der Abwendung zu verletzen, nicht realisiert. Daraus entsteht ein Loyalitätskonflikt. Er bewirkt heftige Ressentiments gegenüber der Mutter, die verdrängt werden, und einen verleugneten Hass gegenüber der festhaltenden Beziehung zu ihr. In dieser Konstellation entsteht, verbunden mit Angst vor Liebesverlust, die Neigung, Bedürfnisse nach Selbstständigkeit mit Schuldgefühlen zu beantworten.

      Wenn das Kind erlebt, dass die Beziehung zwischen den Eltern durch die Hinwendung zu einem Elternteil nicht zerstört und der verlassene Elternteil durch die Liebe zwischen den Eltern geschützt wird, dann kann es trianguläre Beziehungen zulassen. Das bedeutet einen Entwicklungsfortschritt, denn die Beziehung zwischen den Eltern kann dann anerkannt werden und das Kind selbst kann beginnen, eigene Wege zu gehen und seine eigene Identität zu verwirklichen. Insofern ist die Triangulierung mit dem Grundkonflikt der Identität verknüpft.

      Mit der Triangulierung entwickelt die Beziehungsstruktur sich von der Triade zur Triangularität. Das Kind erwirbt nun die Fähigkeit, mit Alternativen zu leben, und entwickelt die Vorstellung, eine Beziehung durch eine andere ersetzen zu können. Zunehmend erlebt es sich nun auch in die trianguläre Beziehung zwischen den Eltern einbezogen. Damit wird die Beziehung zur Mutter gelockert und die Dyade aufgelöst. Diese Entwicklung zu fördern, ist die wichtige Funktion des Vaters für die Entwicklung der Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt. Er wird zum Katalysator im Prozess der Triangulierung und der Festigung der Autonomie. Damit wird die Grundlage für das Leben im Dreieck als Urform der sozialen Beziehungen geschaffen.

      Das Scheitern der Triangulierung führt zur Fixierung von Trennungsängsten und Loyalitätskonflikten. Damit stehen auch die späteren Beziehungen des Erwachsenenlebens unter dem Vorzeichen einer unerfüllten Sehnsucht nach alternativen Beziehungen. Sie rühren meistens auch an das Selbstgefühl. Das ist die Disposition für die Entstehung von präödipalen Störungen auf mittlerem und höherem Strukturniveau (image Kap. 4.4), insbesondere zu präödipalen narzisstischen, depressiven und somatoformen Störungen.

      Stabilisierung der Identität im vierten bis sechsten Lebensjahr

      Wenn die Autonomieentwicklung und die Triangulierung gelingen, richtet sich das triebhafte Begehren nach und nach auf andere Personen und gibt der Sexualität ihr phallisch-genitales Gepräge. Zugleich erhält die Beziehung zwischen anderen eine stärkere Bedeutung. Indem das Kind sich nun gewahr wird, dass es nicht im Mittelpunkt aller Beziehungen steht, gerät es in Rivalität mit seinen Bezugspersonen. Gleichzeitig werden die Beziehungen mit dem kindlich-sexuellen Begehren und entsprechenden Phantasien besetzt.

      Auf diese Weise entstehen Konflikte zwischen hetero- und homoerotischen Strebungen, zwischen sexuellem Begehren und Angst vor Strafen, zwischen aggressiver Rivalität und sexueller Zärtlichkeit. Diese Konflikte sind in mehrpersonale Beziehungen, z. B. Mutter-Vater-Kind(-Geschwister),