Erlebnisse, welche die Verarbeitung von Erfahrungen und die Kommunikation beeinträchtigen, wirken in den frühen Entwicklungsphasen traumatisierend. Sie stellen neben negativen belastenden sozioökonomischen Einflüssen Risikofaktoren in Hinblick auf spätere neurotische Erkrankungen dar. Die Verwundbarkeit durch belastende Einflüsse ist in den ersten drei Lebensjahren am größten.57 Besonders sensibel ist die intentionale Entwicklung in den ersten eineinhalb Lebensjahren, in denen die Grundstruktur der Persönlichkeit (das »Ich«), das Grundvertrauen zum Leben und zur Welt und die basale Bindungs- und Beziehungsfähigkeit als Kern des Selbst- und Identitätsgefühls heranreifen. Beeinträchtigungen in dieser Zeit disponieren zur Entwicklungspathologie, d. h. zu Strukturstörungen bis hin zu schweren Persönlichkeitsstörungen. Aber auch in späteren Entwicklungsphasen sind konfliktbeladene Beziehungen und eine uneinfühlsame bzw. autoritäre Erziehung überfordernd und schaffen Konfliktsituationen, die nicht verarbeitet werden können. Sie stellen eine Disposition für Konfliktstörungen bzw. eine Konfliktpathologie dar.
Risiko- und protektive Faktoren für die Entstehung psychogener Störungen58
• Belastend wirken
– Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht, schlechte sozioökonomische Verhältnisse, große Familien mit unzureichenden personellen und materiellen Ressourcen, Bedrohung der materiellen Sicherheit und materielle Not, räumliche Enge
– Familiäre Probleme: Chronische Disharmonie, brüchige Beziehungsgestaltung, häufige oder langdauernde Trennungen, familiäre Gewalt und Missbrauch, Krankheit und psychische Störungen in der Familie (Depressionen, Alkoholismus), Verwahrlosung und Kriminalität
– Ungünstige Lebenskonstellationen: Alleinerziehende Mutter, uneheliche Geburt, geringer Altersabstand zum nachgeborenen Geschwister
– Belastende und traumatische Lebensereignisse: Mutterverlust, wechselnde Beziehungen, Missbrauch und Misshandlung
• Schützend wirken
– Persönlichkeit: Robuste Konstitution (Temperament), gute Intelligenz und Begabungen, sichere Bindung
– Familiärer Zusammenhalt und Zugewandtheit, stabile und intakte Großfamilien als Ersatzmilieu nach Mutterverlust
– Vertrauenspersonen: Kompensatorische, dauerhafte gute Beziehung zu verständnisvoller Vertrauensperson, insbesondere nach Belastungen
– Soziale Integration der Familie, soziale Förderung, z. B. in der Schule
In der frühen Kindheit werden die Grundlagen für die spätere Lebensbewältigung gelegt. Die Verknüpfung von Kindheitsbelastung und späterer Störung ist nicht nur nach umfangreicher klinischer Erfahrung evident, es gibt dafür inzwischen auch eine beträchtliche Zahl von empirischen Belegen.
Entscheidend für das Krankheitsrisiko sind neben den frühkindlichen Belastungen auf der Risikoseite spätere kompensatorische Einflüsse, die selbst erhebliche Frühbelastungen ausgleichen können und vor Erkrankungen schützen.59 Kompensatorisch wirken eine annehmende Grundeinstellung gegenüber dem Kind, Empathie und Spiegelung, Anerkennung und Bestätigung, konstante und ausgeglichene Primärbeziehungen und sichere Bindungen sowie ein sicherheitgebendes familiäres Umfeld. Fördernd ist eine haltgebende Erziehung mit angemessenen Belastungen und Entwicklungsanreizen.
Frühe Reifungs- und Entwicklungsschäden sind also in einem bestimmten Ausmaß reversibel, wenn ihnen durch fördernde Beziehungen begegnet wird. Die Plastizität der Persönlichkeit bleibt jedenfalls über weite Strecken des Lebens erhalten. Sie ist nicht auf die frühe Kindheit begrenzt. Man kann als Grundorientierung sagen, dass frühe Belastungen sich fixieren und definitiv pathogen wirken, wenn sie durch die spätere Entwicklung bestätigt und verstärkt werden. Spätere protektive und supportive Erfahrungen können hingegen korrigierend wirken.
2.2.2 Psychoanalytische Entwicklungstheorie
Die Psychoanalyse hat sich schon lange in Behandlungen erwachsener Kranker mit der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion von hemmenden Entwicklungseinflüssen in der Kindheit befasst und daraus eine Entwicklungstheorie abgeleitet. Eine weitere Quelle dafür waren Behandlungen von Kindern, die einen direkten Einblick in die kindliche Seele boten. Sie sind vor allem mit den Namen von Anna Freud und Melanie Klein verbunden, die als Begründerinnen der Kinderanalyse gelten. Auch die Pädagogik und die Beobachtung des Spiels von Kindern in psychoanalytisch inspirierten Kindergärten brachten weitere Einsichten.60
Heute stützen sich unsere Vorstellungen über die menschliche Entwicklung auf eine Fülle von klinischen und empirischen Erkenntnissen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Direktbeobachtung von Kindern in der empirischen Säuglingsforschung zu (
Ichentwicklung61
Das Ich ist die zentrale Schaltstelle der seelischen Prozesse und Funktionen. Es stellt die Koordination der verschiedenen Interessen und Strebungen dar. Es steuert die motivationalen Prozesse der Triebabfuhr und der Affektregulation und vermittelt zwischen den verschiedenen psychischen Bereichen (Instanzen,
• Ichfunktionen wie Wahrnehmung, Denken, Abwehr. Sie beruhen auf einer konstitutionellen Grundlage und werden durch biologische Reifung und interaktionelle Erfahrungen (Lernen) ausdifferenziert. Für das Denken besteht eine interessante Theorie, welche die Aktivierung der Denkfunktion als einen interaktionellen Prozess beschreibt (s. unten).
• Basale strukturelle Fähigkeiten der Selbst- und Beziehungsregulation (
Die entscheidenden Phasen der Ichentwicklung sind bereits mit eineinhalb bis zwei Jahren abgeschlossen, wenn mit dem Ausklingen der frühen intentionalen Phase das explizit-deklarative, episodische Gedächtnis entsteht und die Basis für das begriffliche Denken angelegt wird.62 Dieser Zeitpunkt ist durch die Anerkennung der Getrenntheit des Selbst von den anderen und die Fähigkeit einer reifen Realitätserfassung mit der Integration von widersprüchlichen Wahrnehmungen verbunden, die in der davor liegenden Frühentwicklung noch durch Spaltung auseinandergehalten wurden. In dieser Zeit vollzieht sich auch ein allmählicher Wechsel von der Spaltungs- zur Verdrängungsabwehr (
Allerdings erfährt ein spezieller Ichanteil, das Überich, seine überdauernde Funktion mit realistischen Verbots- und Idealvorstellungen erst mit der Lösung des sog. Ödipuskomplexes.