Daran änderte sich selbst nach der Einführung der Kinderanalyse ab 1920 wenig. Sie erlaubte es zwar, die Rückschlüsse aus der Behandlung von Erwachsenen durch direkte Beobachtungen von Kindern zu ersetzen. Sie war aber mehr einer Fundierung klinischer Konzepte als einer objektivierenden Forschung gewidmet. So verwundert es nicht, dass die klassische Entwicklungslehre nur noch geringe Bedeutung für das Verständnis der komplexen menschlichen Entwicklung und der therapeutischen Prozesse hat. Dies umso mehr, als die Psychoanalyse sich ab 1940 immer mehr den sogenannten frühen Störungen zuwandte. Dafür gab diese Entwicklungspsychologie mit ihrem Schwerpunkt bei den Trieben und der ödipalen Entwicklung keinen angemessenen Bezugsrahmen ab. Mit der Hinwendung zu den Frühphasen der Entwicklung rückte die Beziehung zur »realen frühen Mutter« und ihrem Kind immer stärker in den Blickpunkt.
Säuglingsforschung
Die empirische Säuglingsforschung49 beschreibt, wie der junge Säugling am Anfang des Lebens und bereits intrauterin mit der Verarbeitung von Wahrnehmungen aus dem Körperinneren und den diffusen Reizen von außen beschäftigt ist. Dafür stehen ihm eine Reihe von Fähigkeiten zur Verfügung, mit denen er Spannungen reguliert und Resonanz, Unterstützung und Reizschutz durch die Pflegepersonen induziert (
Fähigkeiten von Neugeborenen und Säuglingen50
• Überraschend gutes Vermögen, gut zu sehen und zu hören, schon von Geburt an
• Unterscheidung der Stimme der Mutter von anderen Stimmen
• Koordination von Wahrnehmungen aus verschiedenen Sinnesbereichen, z. B. Sehen, Hören, Riechen, Fühlen
• Mimischer Ausdruck von mindestens sieben unterschiedlichen Primäraffekten (
• Unterscheidung der dynamischen Struktur von Affekten, z. B. plötzlich auftauchender/langsam anschwellender Affekt
• Einflussnahme auf das Verhalten der Bezugspersonen durch Mimik, Laute und Gesten
Die früheren Vorstellungen eines nur passiv ausgelieferten Neugeborenen sind durch diese Befunde überholt. Sie beschreiben den Neugeborenen als »kompetenten Säugling «51, der seine Entwicklung aktiv mitgestaltet. Er beschäftigt sich lustvoll mit seiner Umgebung und initiiert Interaktionen und Reaktionen durch die kommunikative Funktion, die seinen körperlichen und affektiven Äußerungen innewohnt.
Er erkennt visuell, reagiert auf Berührungen, auf Stimmmelodien und Stimmqualitäten, unterscheidet die Stimme der Mutter von anderen, erkennt ihren Geruch oder den ihrer Milch. Bald lernt er zwischen eigenen Lauten und Tönen von außen, zwischen Selbstberührung und Berührtwerden zu unterscheiden. Bald lernt er auch Abläufe kennen und schaut z. B. auf den Mund der Pflegeperson, wenn er eine Stimme hört. Er verfügt über ein überraschend differenziertes Gefühlsleben, das er seiner Umgebung mitteilt. Damit stiftet er Beziehung und nimmt Einfluss auf seine Bezugspersonen, ebenso wie er selbst von ihnen beeinflusst wird.
Trotzt der Autonomie dieser Prozesse sind Säuglinge bei der Entwicklung ihres Selbstgefühls auf Reizschutz, Resonanz und Betätigung angewiesen. Es gibt schon in den Frühphasen des Lebens erstaunliche Grundformen der Kommunikation und Beziehungsregulation52. Sie werden wirksam, um eine psychophysiologische Homöostase herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dazu senden sie von Anfang des Lebens an Signale aus (Blickkontakt, Lallen, Schreien usw.), mit denen sie passende Antworten auf ihre Wahrnehmungen und Bedürfnisse induzieren. Säuglinge und Pflegepersonen bilden auf diese Weise eine kommunikative Symbiose, die durch Kontingenz, d. h. ein Zusammenpassen von Bedürfnis und Bedürfnisbeantwortung, geprägt ist.
Diese Befunde verändern die landläufige Vorstellung von der Kindheit als einen paradiesischen Zustand der Passivität. An ihre Stelle tritt die Vorstellung eines reziproken Prozesses zwischen Mutter und Kind, die im Austausch mit einander stehen. Die Basis dafür sind die angeborenen Programme des Säuglings und der Eltern. Das Zusammenspiel der Programme garantiert die zutreffende Beantwortung der Bedürfnisse des Kindes. Dieses Zusammenpassen (matching) vermittelt Erfahrungen von Kontingenz und Wirksamkeit. Sie sind maßgeblich dafür, dass die Entwicklung des Selbst gelingt.
Mit Konzepten wie primäre Mütterlichkeit, intuitive Elternschaft oder Feinfühligkeit wird die große Bedeutung der elterlichen Intuition für die Selbstfindung betont. Sie beruht auf Resonanzphänomenen53, die durch Spiegelneurone54 vermittelt werden. Sie bewirken, dass Menschen auf Stimmungen, Handlungen oder auch nur Absichten ihres Gegenübers in ihrem Gehirn die gleichen Nervenzellen aktivieren wie die Handelnden selbst. Durch diese Art der präverbalen Kommunikation entsteht in den Eltern eine intuitive Gewissheit über die Befindlichkeiten ihres Kindes. Ausgelöst durch kindliche Signale setzen sie sich mit einfachen, gut abgrenzbaren Antworten zu ihm in Beziehung – durch Anlächeln, Ansprechen, Kopfnicken, Mundbewegungen oder auch durch Berührungen. Passende Reaktionen können Spannungen lösen. Dadurch können im Kind basale prozedurale Erfahrungen entstehen und verinnerlicht werden.
Bindungsforschung
Die Bindungsforschung wurde in den 1940er und 1950er Jahren von John Bowlby55 initiiert. Wegen ihrer Hinwendung zur realen Erfahrung als Gegenpol zur Phantasiewelt blieb sie lange von der vorherrschenden Psychoanalyse isoliert. Heute gehört sie zu den maßgeblichen Basiswissenschaften, auf die sich auch die Psychoanalyse stützt.
Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Annahme, dass der Mensch mit einem angeborenen Grundbedürfnis zur Welt kommt, die Nähe anderer zu suchen und Bindungen zu anderen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Es ist mit dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit verbunden und dient dem Überleben. Danach ist das Bindungssystem ein eigenständiges Motivationssystem neben anderen wie Aggression oder Sexualität. Es wird in Gefahrsituationen aktiviert und ruft spezielle, konstitutionell mitgebrachte Verhaltensweisen hervor, das sogenannte Bindungsverhalten. Es umfasst instinkthaft vorgegebene Kommunikationsmuster wie Blickkontakt, Mimik, Zappeln oder Schreien, mit denen Aufmerksamkeit, Zuwendung und Nähe zu anderen hergestellt wird und ein Gefühl der Sicherheit erzeugt werden soll. Je nach den Erfahrungen, die der Säugling dabei mit seinen Bezugspersonen macht, entstehen spezifische Bindungsstile (
Neben der Funktion der Bezugspersonen als sichere Basis ist ihre Feinfühligkeit maßgeblich für die Entwicklung des Bindungsverhaltens.56 Entscheidend ist, dass die Person, zu der Nähe gesucht wird, sich rasch in das Kind hineinversetzen und seine Lage erfassen kann, zügig und zutreffend reagiert und das rechte Maß zwischen Versagung und Überversorgung findet. Daneben dürften aber auch konstitutionelle Faktoren auf Seiten der Kinder, z. B. ihre psychische Dünnhäutigkeit, eine Rolle spielen.
Bindung lässt sich als Reaktion darauf verstehen, wie die Bezugspersonen auf das kindliche Bindungsbedürfnis antworten. Damit untermauert die Bindungsforschung die Erkenntnis, dass das Selbsterleben zwischen zwei Menschen intersubjektiv ausgehandelt wird. Es ist als ein Produkt ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu verstehen. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit den Befunden der Säuglingsforschung und betont die große Bedeutung der realen Beziehung für die Entwicklung des Selbst.
Risiko- und protektive Faktoren
Die frühe Beziehungsregulation ist sensibel für Störungen auf Seiten des Säuglings und der Pflegepersonen (