Triebentwicklung
Triebe sind Motivationssysteme, die das Erleben und Verhalten steuern. Sie beruhen auf Bedürfnissen, die nach Entlastung und Befriedigung drängen. Sie sind mit Vorstellungen (z. B. von entlastenden Handlungen) und Empfindungen (z. B. Lustgefühlen) verbunden. Letztlich geht es dabei um den Abbau von Spannungen. Ursprünglich stand die biologische Auffassung im Vordergrund. Freud63 definierte »Trieb« als Drang zur Abfuhr somatischer Erregung mit den Kategorien Quelle, Ziel, Objekt und Drang. An anderer Stelle betonte er die psychologische Dimension. Danach ist der Trieb die psychische Repräsentanz einer somatischen Reizquelle. Der Begriff »Repräsentanz« umfasst eine Vorstellung und den dazugehörigen Affekt, z. B. die Vorstellung von Nahrung und den Affekt von Gier oder Ekel. Bei den Sexualtrieben stehen die libidinösen Lust-Unlust-Affekte ganz im Vordergrund. Dagegen sind die aggressiven und Selbstbehauptungstriebe von aggressiven Affekten geprägt. Der Gegensatz von Libido und Destrudo prägt die psychoanalytische Triebpsychologie.
Die infantil-sexuelle Triebentwicklung
• Autoerotisches Stadium
Eine polymorph-perverse Phase, in der der Körper als Ganzes erogen besetzt ist und die Reizung der Haut zur Befriedigung führt, eröffnet die infantile Sexualentwicklung.
• Orale Phase
Diese Phase orientiert sich am oralen Verlangen. Sie ist geprägt durch die Lust, etwas in sich aufzunehmen und zu besitzen, und steht zugleich für Fürsorge und Zuwendung durch die Pflegeperson. Sie beherrscht die ersten eineinhalb Lebensjahre.
• Anale Phase
Das anale Bedürfnis prägt die Entwicklung im zweiten bis vierten Lebensjahr. Es beruht auf der Lust am Ausstoßen, am Kontrollieren und an der Verweigerung. Analität steht für Selbstbehauptungsbedürfnisse und Machtinteressen.
• Phallische (ödipale) Phase
Im dritten Lebensjahr wird der Geschlechtsunterschied bewusst. Es entsteht Befriedigung in der Selbstdarstellung (Erregung im Sich-Zeigen), in der Neugier (Erregung im Schauen) und in der Unabhängigkeit. Diese Phase dauert bis zum sechsten Lebensjahr.
• Latenzphase
In der psychosozialen Übungsphase, die bis zur Pubertät andauert, werden keine neuen Triebziele gewählt. Die infantile Sexualität äußert sich in Sublimierungen der Libido.
• Genitale Phase
Mit der Pubertät geht die infantile in die Erwachsenensexualität über. Mit der Dominanz der Genitalien als erogene Zone wird die Masturbation zur Befriedigungsmöglichkeit. Sexualität erhält nun eine Fortpflanzungsfunktion.
Die psychoanalytische Entwicklungslehre beschrieb die kindliche Entwicklung zunächst als infantile Entwicklung des Sexualtriebes. Sie verläuft in einem phasenhaften Prozess von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Sie orientiert sich an den entwicklungsmäßig vorherrschenden körperlichen Funktionen und psychischen Bedürfnissen. Diese sind an bestimmte erogene Zonen angelehnt, d. h. an leicht erregbare Körperbereiche wie der Mund. Diese Entwicklung wird in der späten Kindheit von einer Periode der Latenz unterbrochen und geht in der Pubertät in die Erwachsenensexualität über (
Heute betrachten wir die Freudschen »Phasen« als Entwicklungsstufen der psychosexuellen Organisation und betonen dabei stärker als in den Anfängen der Psychoanalyse die Verknüpfung mit der Entwicklung der Ichstruktur, des Selbst und der Objektbeziehungen.
Parallel dazu verläuft die Entwicklung der Libidobesetzung. Darunter versteht man die Ausrichtung der psychosexuellen Interessen. Sie richten sich nach Freud anfangs autoerotisch auf die eigene Person, gelangen dann in der fragilen Phase des Narzissmus in das Spannungsfeld zwischen Selbst und andere und reifen später zur Objektliebe, d. h. zum tiefergehenden Interesse an anderen als Liebesobjekte.
Während die psychoanalytische Triebtheorie anfangs eine reine Libidotheorie (d. h. Theorie der sexuellen Triebentwicklung) war, wurde sie später durch den Dualismus von libidinös-lebenserhaltenden und aggressiv-zerstörerischen Trieben erweitert. Den zweiten Pol des Trieblebens neben dem Sexuellen bilden demnach die aggressiven Triebe, die sich parallel zum libidinösen Erleben entwickeln. Sie basieren nach Freud auf dem Todestrieb64, ein Konzept, das umstritten ist.
Neben den eng mit psychophysiologischen Funktionen verbundenen libidinösen Trieben wird auch den bindungs- und beziehungsorientierten intentionalen und den narzisstischen Grundbedürfnissen nach Sicherheit, Anerkennung und Bestätigung eine triebhafte Qualität zugeschrieben; man spricht dabei von Ichtrieben.
Entwicklung der Affekte
Ein wichtiger Aspekt der Ichentwicklung ist die Entwicklung der Affekte wie z. B. Angst oder Trauer. Sie sind interne Motivationen, denen die Funktion zukommt, basale Bedürfnisse wie die nach Unverletztheit, Distanz, Beachtung und Verbundenheit zu sichern. Sie werden durch körperinnere Erregungen und Reize von außen aktiviert. Sie haben einen kommunikativen (expressiven), motivationalen und selbstbefindlichen Aspekt.
Bereits beim Neugeborenen zeigen sich primäre Affekte. Ihre Bedeutung stützt sich auf das phylogenetisch erworbene Menschheitswissen. Das bedeutet, dass sie in allen Kulturen auftreten. Sie dienen der Kommunikation und Beziehungsregulation. Im Laufe der weiteren Entwicklung kommen die sog. strukturellen Affekte hinzu, deren Bedeutung sich aus persönlichen Erfahrungen verstehen lässt (
Häufige Affekte
Kulturübergreifende Primäraffekte65 | Weitere Affekte (Beispiele) | |
• Fröhlichkeit, Freude• Wut• Trauer• Furcht• Ekel• Verachtung• Überraschung | • Liebe• Hass• Hoffnung• Glück• Lust• Begierde• Neid | • Eifersucht• Angst• Scham• Schuld• Stolz• Interesse |
Affekte sind in ihrer Grundstruktur schon bei der Geburt vorhanden und bilden den Kern der Beziehungsrepräsentanzen, die das Selbst mit den anderen verbinden. Sie werden in der Interaktion mit den Pflegepersonen zu kommunikativen Systemen weiterentwickelt.66 Sie sind eng mit körperlichen Reaktionen (z. B. Erröten und Blutdruckanstieg bei Ärger) verbunden und mit dem Erleben von Bedürfnissen und Beziehungen verknüpft. Sie können durch entsprechende Auslösereize aktiviert werden. So entstehen Schmerz und Sehnsucht nach Trennungen, während Verletzungen Hass und Wut hervorrufen.
Affekte dienen der Kommunikation und der Beziehungsregulation. Zu den positiven Affekten gehören Freude, Zuneigung und Leidenschaft. Ekel und Abneigung stellen eine aversive Reaktion dar. Diese Reaktionen entstehen spontan und werden zur Beziehungsregulation eingesetzt. Unter dem Eindruck der Beziehungserfahrungen werden sie modifiziert und weiterentwickelt, so dass Menschen später über ein breites Spektrum verfügen, in denen sich Beziehungserfahrungen abbilden.
Zunächst ist ein Affekt ein körperliches Erleben (»embodied emotion«). Es drückt sich averbal durch sprachloses Empfinden aus. Dieses geht als Körpererinnerung in die frühe Entwicklung des Selbst mit ein. Erst im Verlaufe einer gelingenden Entwicklung werden die »verkörperten« Wahrnehmungen mentalisiert, d. h. es werden Begriffe und Sprachsymbole für das affektive Empfinden gebildet. Diese Entwicklung wird durch Spiegelerfahrungen in den Primärbeziehungen gefördert, indem die Bezugspersonen kontingent (passend) auf die Affektäußerungen antworten. So kann ein Schmerzempfinden durch Berührung (Streicheln) oder tröstende Worte beantwortet werden. Dabei haben die Inhalte weniger Bedeutung als der Stimmklang, die Gestik und der begleitende tröstende Blick.
Auf diese Weise bilden sich Erinnerungen an die