Unter Mentalisierung versteht man die Fähigkeit, über sich und andere nachzusinnen und sich ein Bild über innere Prozesse und Motivationen zu machen. Dabei werden Erfahrungen aus Beziehungen so organisiert, dass man sich in sich selbst und den anderen hineinversetzen kann, sich ein Bild von den inneren Erlebnisweisen machen, sich Befindlichkeit erklären und Verhalten voraussehen kann. Voraussetzung ist, dass die Erfahrungen mit den Bindungspersonen eine sichere Bindung ermöglicht haben.
Das relativ neue Konzept der Mentalisierung ist eng mit dem der Symbolisierung verwand, das in der traditionellen Psychoanalyse im Zusammenhang mit der Begriffs- und Sprachentwicklung entstand. Symbolisierung beschreibt eine Ichfunktion aus intrapsychischer Sicht, während Mentalisierung einen intersubjektiven Prozess beschreibt, der zur Etablierung von Vorstellungen und Repräsentanzen führt. Man kann die Umwandlung früher archaischer Körpererfahrungen in Begrifflichkeit und selbstreflektives Erleben im Rahmen beider Konzepte beschreiben: als Symbolisierung von Affekten oder als Mentalisierung innerer Zustände.
Die Mentalisierung spielt bei der Entstehung von Repräsentanzen eine bedeutende Rolle. Im Alltag ist sie unentbehrlich. Unter Belastungen ist sie beeinträchtigt. Für das Verständnis und die Behandlung psychischer Störungen bietet sie ein hilfreiches Konzept: Heute werden schwere Persönlichkeitsstörungen als Folge von Mentalisierungsdefiziten verstanden und behandelt (
Ursprünglich stammt das Konzept aus der französischen Psychosomatik73. Dort wurde das konkretistische »operative« Denken schwer gestörter psychosomatischer Patienten von Pierre Marty als Mentalisierungsdefizit gedeutet (
Der zentrale Prozess dieser Entwicklung ist der transformierende Austausch von Affekten zwischen dem Kind und der Bezugsperson, was der oben beschriebenen Alphafunktion bei der Entwicklung des Denkens entspricht. Dabei nimmt die Pflegeperson die Affekte des Kindes zunächst auf und »markiert« sie: Sie verknüpft die Affekte des Kindes spontan mit eigenen. So kann z. B. Wut des Kindes mit beruhigenden Gefühlsanteilen der Mutter verknüpft werden, was sich im Sprachklang niederschlagen kann. Man kann sagen, die Mutter gibt dem Kind seinen Affekt verändert zurück. Das Kind macht die Erfahrung, dass zwischen ihm und seiner Mutter Unterschiede bestehen. Es lernt, dass das Selbst und die Andere verschiedene Personen sind und dass es selbst in ihr etwas bewirken kann. In diesem Prozess bildet sich nach und nach im Kind die Vorstellung von der psychischen Innenwelt. Vergangene, gegenwärtige und zu erwartende Erfahrungen werden als Theory of Mind74 verinnerlicht.
Die Entwicklung der Mentalisierung im Kindesalter75
• Teleologischer Modus
Am Ende des ersten Lebensjahres beginnen Kinder, sich als Urheber von Aktionen zu erleben und rationale Reaktionen darauf zu erwarten. Das ist das Ergebnis der gelungenen Affektspiegelung in den frühen Interaktionen. Sie haben aber noch keine Vorstellung von Wünschen und Motiven der anderen.
• Dualer Modus
Mit etwa anderthalb Jahren beginnen Kinder, ihre Innenwelt im Spiel auszudrücken. Dabei setzen sie innere Erfahrungen auf zwei Weisen mit der äußeren Situation in Beziehung:
– Im Äquivalenzmodus setzen sie innere Welt und äußere Realität gleich. Es gibt noch kein Bewusstsein für den Unterschied zwischen Vorstellung und äußerer Wirklichkeit. Die Vorstellungswelt erscheint daher konkretistisch: Der gemalte Tiger ist real gefährlich, man muss sich tatsächlich vor ihm schützen.
– Im Als-ob-Modus weiß das Kind im Spiel, dass seine Phantasien nicht »real« sind. Es weiß, dass der Tiger nicht »wirklich« gefährlich ist, und muss sich nicht schützen. Innen und außen werden voneinander dissoziiert.
• Reflexionsmodus
Im vierten bis fünften Lebensjahr werden die beiden Modi integriert. Dabei spielt die vermittelnde Reaktion anderer Personen beim Mitspielen oder in Kommentaren eine fördernde Rolle. Damit erreichen die Kinder die Stufe der Mentalisierung. Jetzt werden innere und äußere Realität als miteinander verbunden erlebt und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Perspektiven anerkannt.
Die Mentalisierungsfähigkeit wird in der ungestörten Entwicklung im vierten bis fünften Lebensjahr erreicht. Das Kind tritt dann in den Reflexionsmodus, in dem Zusammenhänge und Unterschiede zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen dem Selbst und den anderen wahrgenommen und anerkannt werden. Es entwickelt ein komplexes Arbeitsmodell für die Bewältigung psychosozialer Situationen.
Diesem Modus gehen zwei duale Modi des Erlebens voraus: ein konkretistischer Äquivalenzmodus und ein dissoziativer Als-ob-Modus. (
Entwicklung des Selbst und der Identität76
Das Selbst umfasst das Wissen, wer man ist. Es enthält das Empfinden, ein kohärentes (einheitliches, integriertes), denkendes und handelndes Wesen zu sein. Aus der Perspektive des Selbst nimmt man sich als Person mit einer bestimmten Persönlichkeit wahr. Das Selbst enthält Vorstellungen, die auf Repräsentanzen von Erfahrungen beruhen. Damit unterscheidet es sich vom psychoanalytischen Konzept des Ichs als Träger von Funktionen.
Heinz Hartmann77 beschrieb das Selbst als übergreifendes psychisches System, vergleichbar dem Es und dem Überich. Es entsteht aus dem Ich und beruht im Wesentlichen auf Identifikationen, d. h. auf Erfahrungen. Lange Zeit wurde es relativ statisch als psychische Struktur betrachtet.
Heute wird dem Selbst eine eigenständige Entwicklung zugeschrieben. Selbst- und Selbstwertgefühl sind danach Produkte intersubjektiver Prozesse. Sie sind das Ergebnis von Spiegelungsprozessen in den frühen Interaktionen. Danach ist das Selbst kontextabhängig und eine Neuschöpfung in der jeweils aktuellen Beziehung.
Schon bald nach der Geburt gibt es einen präverbalen Keim des Selbstempfindens, der die Grundlage für die weitere Entwicklung darstellt. Daraus entwickelt sich in den ersten beiden Lebensjahren durch prozedurale Erfahrungen mit anderen wie Gehaltenwerden, Gelesenwerden, Versorgtwerden eine differenzierte Vorstellung von der eigenen Person. Heute versteht man das Selbst als einen interaktiven Komplex, der sich in lebenslanger Entwicklung befindet. Das Selbstgefühl ergibt sich daraus, wie man mit anderen in Kontakt kommt, was man in ihnen bewirkt, welche Reaktionen man erfährt und welche Erfahrungen man mit sich selbst macht, z. B. wenn man Aufgaben bewältigt.
Nach den Befunden der Säuglingsforschung unterscheidet man mehrere Stufen des Selbstempfindens (
Wirklich neu an dieser intersubjektiven Sicht ist, wie sich das Selbsterleben auf allen Stufen der Entwicklung am Anderen konstituiert: Danach bestimmen die wichtigen »ersten Anderen« mit ihren Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen usw., aber auch der gesamte psychosoziale Kontext darüber, mit welchen Erwartungen ein Mensch empfangen und gesehen und in diese Welt aufgenommen wird. Diese Erfahrung vermittelt sich prozedural, d. h. über Mimik, Gestik, Reaktionsbereitschaft