Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
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intrapsychischen Instanzen. Danach werden zwischenmenschliche Interessenkonflikte als konflikthafte Repräsentanzen (image Kap. 2.2.1) verinnerlicht und verdrängt. Sie behalten aber ihren Einfluss auf das Erleben und Verhalten.

      Man kann sich die innere Repräsentanzenwelt als eine Bühne vorstellen, auf der die Themen der unbewussten Konflikte als unbewusste Phantasien mit Hilfe »innerer Objekte« und des Selbst dargestellt werden. So wie der Zuschauer durch eine Inszenierung im Theater in seinem Fühlen und Denken bis hin zu seinem Verhalten (Applaus, Hinausgehen usw.) beeinflusst wird, so wird das bewusst handelnde und fühlende Ich durch die Konfliktinszenierungen in seinem Innern beeinflusst.

      Struktur als Regulationssystem

      Mit der vermehrten Behandlung von Patienten mit einer Entwicklungspathologie, die einen bedeutenden Anteil der Psychotherapie-Patienten ausmachen, erwiesen sich Freuds Instanzenmodell und – damit verbunden – das Konzept der Neurosen als Folge verdrängter (Trieb-)Konflikte als unzureichend. Es zeigte sich, dass Entwicklungspathologie auf unzureichend entwickelten basalen Funktionen und Fähigkeiten und weniger auf Konflikten beruht.43

      Heute verstehen wir Struktur als Verfügbarkeit von Fähigkeiten und Funktionen für die Regulation der Beziehung zwischen dem Selbst und den anderen. Ein Mangel in Bezug auf strukturelle Fähigkeiten bewirkt, dass das Selbsterleben und das Erleben von Beziehungen unklar, labil und widersprüchlich bleibt und Belastungen nicht standhält. Dadurch entstehen Erlebnisdefizite, Wahrnehmungsverzerrungen, Fehlbewertungen und Verhaltensstörungen. In ihrer Folge verstricken die Betroffenen sich auch immer wieder sekundär in Konflikte.

      Struktur erweist sich vor diesem Hintergrund als ein dynamisches Regulationssystem.44 Es bezieht sich auf das Selbstgefühl und die Beziehungsgestaltungen, auf das innere Gleichgewicht und die Balance zwischen Gegensätzen, auf die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben und andere interpersonale, psychische und psychosoziale Prozesse.

      Die folgenden Merkmale ermöglichen die Einschätzung der strukturellen Funktionen und damit der strukturellen Leistungsfähigkeit und setzen Schwerpunkte für die Behandlung von strukturellen Störungen (image Übersicht).

      Basale strukturelle Fähigkeiten nach OPD-245

      • Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung

      – Sich selbstreflexiv wahrnehmen

      – Andere realistisch und ganzheitlich wahrnehmen

      • Steuerung des Selbst und der Beziehungen

      – Eigene Impulse, Affekte und den Selbstwert regulieren

      – Den Bezug zu anderen regulieren

      • Emotionale Kommunikation nach innen und außen

      – Fähigkeit zur inneren Kommunikation mittels Affekten und Phantasien

      – Fähigkeit zur inneren Kommunikation mit anderen

      • Innere Bindung und äußere Beziehung

      – Gute innere Objekte zur Selbstregulierung nutzen

      – Sich binden und sich lösen

      Psychische Entwicklung und biologische Reifung gehen Hand in Hand. Auf der einen Seite ergeben sich aus der körperlichen Reifung und den damit verbundenen psychischen und sozialen Prozessen umfangreiche Bewältigungsaufgaben, auf der anderen entsteht mit der Reifung der Hirnstrukturen und der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten ein zunehmendes Bewältigungspotenzial.

      Neurobiologische Grundlagen46

      Psychische und mentale Prozesse gründen auf biologisch-neuronalen Vorgängen. So beruht die neurophysiologische Basis der psychischen Entwicklung darauf, dass sich im Gehirn Strukturen entwickeln, welche psychische Aktivitäten und die Umsetzung und Verarbeitung von physiologischen Funktionen und Umwelterfahrungen ermöglichen. Diese Strukturen bestehen aus Netzen von Nervenzellen, deren Verästelungen an peripheren Schaltstellen, den Synapsen, miteinander in Kontakt treten. Dabei werden durch elektrisch aktive Botenstoffe, die Neurotransmitter, dynamische Verbindungen hergestellt. Sie bilden Funktionseinheiten, wobei verschiedene Hirnareale unterschiedliche Funktionen haben. So werden im Hirnstamm, der sich zuerst entwickelt, vitale Grundfunktionen geregelt, z. B. der Schlaf-Wach-Rhythmus, während im limbischen System die Affektwahrnehmung und bestimmte Gedächtnisleistungen lokalisiert sind. Wahrnehmungs- und Handlungsfunktionen sind dagegen in der Hirnrinde lokalisiert, deren Funktion im dritten und vierten Lebensjahr beginnt und im frühen Erwachsenenalter abgeschlossen ist.

      Psychische Aktivitäten haben ihr neurophysiologisches Korrelat in neuronalen Aktivitäten. Man kann sie als elektrophysiologische Leistung der Botenstoffe in den Synapsen eines neuronalen Netzes beschreiben. Diese Aktivitäten können durch bildgebende Verfahren sichtbar gemacht werden, sodass es möglich ist, psychische Funktionen, z. B. die Traumtätigkeit, zu lokalisieren.

      Der Zuwachs an Hirnfunktionen beruht auf genetisch festgelegten Plänen. Er ist aber nicht autonom, sondern wird durch die Verarbeitung von Reizen und Informationen gebahnt, die aus der Umwelt stammen. So beeinflussen z. B. Trennungserfahrungen die neurophysiologische Aktivität bestimmter Hirnareale. Ebenso kann man Lernprozesse als Veränderungen des Hirnstoffwechsels und der neuronalen Kapazität beschreiben. Ein synaptisches Potenzial, das in einer bestimmten Entwicklungsperiode nicht genutzt wird, geht für die weitere Entwicklung verloren.

      Für das psychodynamische Verständnis der Entwicklung ist das Zusammenpassen von biologischer Reifung und modulierenden Erfahrungen besonders wichtig. Dadurch erhalten die Erfahrung und die Beziehung zu den Pflegepersonen eine zentrale Bedeutung für den Entwicklungsprozess. Man kann die Umsetzung der Erfahrung in neuronale Struktur und Funktion auch unter dem Aspekt des Gedächtnisses betrachten: Was der Mensch erinnert, war einmal Erfahrung, welche in neuronale Aktivität umgesetzt worden ist.

      Gedächtnis47

      Auch das Gedächtnis unterliegt einem Reifungsprozess; dem entspricht ein Entwicklungsprozess der Erinnerungsfähigkeit. Das frühe Gedächtnis beruht auf der Wahrnehmung von affektiven, sensomotorischen und vegetativen Erregungen. Sie stammen aus Erfahrungen, für die es aufgrund der relativen Unreife des Gehirns noch keine Begriffe und keine Sprache gibt. Sie verbleiben als Körpererinnerung (Embodiment) im Körperlichen. Sie bilden den Inhalt des implizit-prozeduralen Gedächtnisses. Da ihnen Begriffe und Symbole fehlen, können sie nicht bewusst erinnert werden. Sie treten stattdessen als Enactment in Handlungen und Stimmungen in Erscheinung und vermitteln sich über die Gegenübertragung.

      Später – wahrscheinlich schon im Verlauf des ersten Lebensjahres – kommt das explizit-deklarative, episodische Gedächtnis hinzu. Es zeichnet sich dadurch aus, dass Erinnerungen als explizites Wissen abrufbar sind und berichtet (»deklariert«) werden können. Dabei unterscheidet man wiederum zwischen einem Tatsachenwissen (»Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands«) und einem Episodenwissen (»Im Zoo habe ich Affen und Bären gesehen«). Die höchst entwickelte Stufe bildet später das autobiografische Gedächtnis, in dem die Erinnerungen an die eigene Person einer bestimmten Zeit zugeordnet werden (»Damals, als ich zur Schule ging …«). Es entsteht ab dem dritten Lebensjahr.

      Entwicklungspsychologie

      Die moderne Entwicklungsforschung hat ihren Vorläufer in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, für die Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie aus dem Jahre 190548 als Ausgangspunkt gelten können (s. unten). Dieses Entwicklungskonzept war damals innovativ