»Herr Professor?« entgegnete Dr. Daniel fragend, was ihm sofort einen ungnädigen Blick eintrug.
»Wer redet denn mit Ihnen?« raunzte Professor Thiersch zurück.
Im selben Moment kam Karina, die Tochter von Dr. Daniel, die hier als Assistenzärztin arbeitete, auf die drei Männer zu.
»Sie haben mich gerufen, Herr Professor?«
»War ja wohl nicht zu überhören«, grummelte Professor Thiersch, dann sah er Horst an und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Geben Sie meiner Assistenzärztin Ihre Versicherungskarte, damit sie die Aufnahmeformalitäten gleich für Sie erledigen kann.«
Mit bebenden Fingern nestelte Horst seine Brieftasche heraus und entnahm ihr die Karte. Karina nahm sie freundlich lächelnd entgegen.
»Ich bringe Sie Ihnen gleich zurück«, versprach sie, zwinkerte ihrem Vater verstohlen zu und eilte davon.
»Wo sind die Unterlagen, Daniel?« wandte sich der Professor an Dr. Daniel, nahm die Krankenakte entgegen und studierte gewissenhaft die Eintragungen.
»Da hat Scheibler gute Arbeit geleistet«, knurrte er vor sich hin. »Na ja, kein Wunder. Er hat ja schließlich auch bei mir gelernt.«
Mit kurzen energischen Schritten steuerte er nun sein Büro an. Dabei blickte er nicht ein einziges Mal zurück. Er ging einfach davon aus, daß Dr. Daniel und Horst Kaufmann ihm folgen würden.
»Herr Doktor, dieser Mann macht mir fast noch mehr Angst als meine Krankheit«, gestand Horst leise.
Beruhigend lächelte Dr. Daniel ihn an. »Keine Sorge, Herr Kaufmann, Professor Thiersch bellt sehr laut, aber er beißt nicht – ganz im Gegenteil. Wenn er sich so verhält wie jetzt, dann ist das ein deutliches Zeichen, daß ihn der Fall sehr beschäftigt.«
»Das weiß er aber geschickt zu verbergen.«
Jetzt hatten sie das Büro des Chefarztes erreicht. Dr. Daniel zögerte ein wenig, schließlich ging ihn der Fall aus ärztlicher Sicht nichts an, doch Professor Thiersch winkte ihm unwillig zu – eine deutliche Aufforderung einzutreten.
»Also, Herr Kaufmann«, kam der Professor gleich zur Sache. »Dr. Scheibler hat die nötigen Untersuchungen bereits durchgeführt. Wir machen morgen früh noch ein großes Blutbild, EKG und die übliche Operationsvorbereitung. Wenn alles in Ordnung ist, kommen Sie am Freitagfrüh auf den Tisch.«
Horst schluckte. »So schnell?«
Professor Thierschs buschige Augenbrauen zogen sich über dem Rand der Hornbrille zusammen, so daß sich über der Nasenwurzel eine steile Falte bildete.
»Soll ich Sie vielleicht noch eine Woche warten lassen?« polterte er.
»Nein, nein«, stammelte Horst unsicher. »Ich dachte nur…«
»In dieser Klinik übernehme ausschließlich ich das Denken«, belehrte ihn der Professor. Er drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage.
»Herr Professor?« meldete sich eine fragende Frauenstimme.
»Schicken Sie Heller zu mir!« bellte Professor Thiersch hinein, dann ließ er den Knopf unverzüglich los und ersparte sich so eine mögliche Erwiderung seiner Vorzimmerdame.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Oberarzt Dr. Rolf Heller das Büro betrat. Professor Thiersch stand auf und ging ihm ein paar Schritte entgegen. Der Oberarzt war der einzige an der ganzen Klinik, der in den Genuß einer solchen Höflichkeit kam.
Er gab Dr. Heller die Krankenakte, informierte ihn in knappen Worten über die noch durchzuführenden Untersuchungen und fügte abschließend hinzu: »Kümmern Sie sich gut um unseren neuen Patienten.«
»Selbstverständlich, Herr Professor«, versicherte Dr. Heller, dann wandte er sich Horst mit einem freundlichen Lächeln zu. »Kommen Sie, Herr Kaufmann, ich bringe Sie in Ihr Zimmer.«
»Danke«, murmelte Horst, sah den Professor an, weil er sich verabschieden wollte, doch dieser hatte ihm bereits den Rücken zugewandt.
Dr. Daniel, der diese Geste gut genug kannte, erhob sich ebenfalls.
»Auf Wiedersehen, Herr Professor«, verabschiedete er sich höflich, war aber nicht weiter erstaunt, weil von Professor
Thiersch keine Erwiderung kam.
Als sie auf dem Flur standen, atmete Horst befreit auf.
»Meine Güte«, entfuhr es ihm. »Dr. Scheibler hat tatsächlich noch untertrieben.«
Dr. Heller mußte lachen. »Ich weiß schon, Professor Thierschs Art ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich kann Ihnen versichern, daß ihm das Wohl seiner Patienten sehr am Herzen liegt, und gerade Ihnen scheint er äußerst wohlwollend gegenüberzustehen.«
»Mir?« Zweifelnd schüttelte Horst den Kopf. »Das sah aber ganz anders aus.«
»Sie dürfen mir trotzdem glauben. Ich kenne den Professor seit ziemlich langer Zeit.« Dr. Heller lächelte. »Wenn man ihn auch niemals wirklich ganz durchschaut.« Er sah Dr. Daniel an. »Wie geht’s Gerrit… Dr. Scheibler?«
»Sehr gut«, antwortete Dr. Daniel. »Er ist jetzt Chefarzt der WaldseeKlinik, aber das wissen Sie vermutlich schon.«
Dr. Heller nickte. »Es hat sich herumgesprochen.« Wieder lächelte er. »Dann hat er letztlich ja erreicht, was er wollte.«
»Er hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert«, entgegnete Dr. Daniel. »Er ist verheiratet, hat zwei leibliche und zwei Adoptivkinder. Die Karriere steht bei ihm längst nicht mehr an erster Stelle. Er hatte sogar große Schwierigkeiten, sich an den ›Chefarzt‹ zu gewöhnen.« Er schwieg kurz. »Ich glaube, Sie würden ihn nicht wiedererkennen.«
Dr. Heller lächelte erneut. »Bestellen Sie ihm schöne Grüße von mir, und sagen Sie ihm, daß er uns hier in der Klinik sehr fehlt.«
»Ich werde es ihm ausrichten«, versprach Dr. Daniel, dann wandte er sich Horst zu und reichte ihm die Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Kaufmann, und nach der Operation werde ich Sie bestimmt besuchen.«
Horst zwang sich zu einem tapferen Lächeln. »Wenn ich wieder aufwache.«
»Sie werden aufwachen«, versicherte Dr. Daniel. »Etwas anderes würde Ihnen der Professor gar nicht erlauben.«
*
Nach dem langen Gespräch mit ihrer Mutter war Hannelore völlig erschöpft eingeschlafen. Erst jetzt hatte Lena gezeigt, was in ihr wirklich vorging. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet, als sie den Flur entlanghastete und das Büro des Chefarztes aufsuchte.
»Ist mein Mann schon weg?« stieß sie hervor.
Dr. Scheibler kam ihr entgegen und begleitete sie fürsorglich zu einem Stuhl.
»Ja, Oberschwester«, antwortete er. »Dr. Daniel hat ihn persönlich nach München gefahren.«
Lena vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte auf. »Ich hätte ihn begleiten müssen, aber… Hanni… sie brauchte mich doch auch.«
»Niemand kann sich zerreißen«, entgegnete Dr. Scheibler. »Ich bin sicher, daß Sie die richtige Entscheidung trafen, als sie sich entschlossen, ihrer Tochter beizustehen. Dr. Daniel hat mich in wenigen Worten informiert«, fügte er erklärend hinzu, dann legte er tröstend eine Hand auf ihren Arm. »Ihr Mann war bei Dr. Daniel in guten Händen… Fast möchte ich sagen, in den besten. Er kennt den Professor länger als wir alle und konnte Ihren Mann sicher beruhigen, wenn er von der ruppigen Art des Professors ein bißchen eingeschüchtert war.«
Lena nickte etwas halbherzig. »Trotzdem hätte er mich gerade jetzt gebraucht.«
Dr. Scheibler warf einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde ist Dienstübergabe, danach wird Frau Dr. Walther die Nachtschicht übernehmen. Was halten Sie davon, wenn wir beide dann nach München fahren? Ich bin sicher, daß sich für Sie ein Hotelzimmer