Die Art, wie dieser junge Mann die kurze Geschichte erzählt hatte, gefiel Hannelore. Er schien ein fröhlicher Mensch zu sein, was seine schalkhaft blitzenden blauen Augen noch unterstrichen. Kurzes dunkles Haar drehte sich widerspenstig nach allen Seiten und gab ihm etwas Lausbubenhaftes. In krassem Gegensatz dazu stand sein schmaler, sensibler Mund, der seine sicher nur versteckte Verletzlichkeit verriet.
Hannelore mußte schmunzeln. »Nun weiß ich schon so viel über Sie und Ihre Schwester, aber Ihren Namen haben Sie mir immer noch nicht verraten.«
»Ach, du Schande«, entfuhr es dem jungen Mann. »Sie müssen mich ja für einen Flegel halten.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Ich schwöre Ihnen, daß das ein einmaliger Ausrutscher war.« Dann stand er auf und deutete eine Verbeugung an. »Manfred Kern. Meine Schwester sagt Fredi zu mir.« Er grinste wieder. »Meine besten Freunde auch.«
Hannelore lächelte fast ein wenig kokett. »Ist das vielleicht ein Angebot?«
Manfred nickte. »Selbstverständlich.« Forschend sah er Hannelore an. »Darf ich Ihren Namen jetzt auch erfahren?«
Sie nickte. »Ich heiße Hannelore Jung.« Noch immer lächelnd fügte sie hinzu: »Meine Freunde sagen Hanni zu mir.«
»Freut mich, Hanni.« Sein Blick wurde ernster. »Gibt es auch jemanden, der ein besonderes Vorrecht hat, Sie Hanni zu nennen? Ich meine… es geht mich zwar nichts an, aber… na ja, ich wüßte ganz gern, woran ich bin.« Er lächelte wieder. »Schließlich will ich ja nicht riskieren, daß mich ein eifersüchtiger Ehemann zum Duell fordert, nur weil wir uns ganz harmlos unterhalten haben.«
Hannelores Lächeln erlosch. »Zum Duell würde er Sie sicher nicht fordern, aber… ja, es gibt tatsächlich einen Ehemann in meinem Leben.«
Aufmerksam sah Manfred sie an. »Das klingt nicht so, als würden Sie eine glückliche Ehe führen.«
Hannelore erschrak. »Doch, sie ist glücklich«, behauptete sie. Für einen Moment senkte sie den Kopf. »Na ja, im Augenblick vielleicht nicht, aber… das liegt an… an meinem Aufenthalt hier. Ich hatte… eine Fehlgeburt.«
»Das tut mir leid.« Manfreds Gesichtsausdruck bewies, daß diese Worte keineswegs floskelhaft gewählt waren. »Ich glaube, so etwas ist das Schrecklichste, was einer Frau passieren kann.«
Hannelore nickte mit zusammengepreßten Lippen, bevor sie plötzlich in Tränen ausbrach. »Wenn man dann auch noch das Gefühl hat, selbst schuld zu sein…«
Manfred war tief betroffen angesichts der Tragödie, die sich anscheinend in Hannelores Leben abgespielt hatte.
»Haben Sie darüber schon mit Dr. Daniel gesprochen?« fragte er behutsam.
Hannelore nickte unter Tränen. »Er sagt, die Ursachen für das Absterben des Kindes könnten so vielfältig sein… und ich war erst in der achtzehnten Schwangerschaftswoche. Selbst wenn Komplikationen hätten entdeckt werden können, wäre das Baby außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig gewesen, aber…« Mit verzweifeltem Blick sah sie Manfred an. »Ich war während der gesamten Schwangerschaft nicht ein einziges Mal beim Arzt, und nun mache ich mir Vorwürfe deswegen. Harry… mein Mann… er versteht das nicht. Er denkt, wir könnten ja wieder ein Baby haben, aber… für mich wäre das nicht dasselbe.«
Manfred nickte verständnisvoll. »Es kann auch niemals dasselbe sein.« Spontan griff er nach Hannelores Händen und hielt sie fest. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Hanni, sprechen Sie über all das noch einmal mit Dr. Daniel. Nur er kann Ihnen sagen, ob die Vorwürfe, die Sie sich machen, irgendeine Berechtigung haben.«
»Und… wenn es so wäre?« wollte Hannelore wissen und fragte sich dabei, wie es kam, daß sie mit diesem fremden Mann über Dinge sprechen konnte, die sie nicht einmal Harald anvertraut hatte.
»Dann müssen Sie damit fertig werden«, entgegnete Manfred ernst. »Das wird bestimmt sehr schwierig sein, aber… Sie können die Zeit nun mal nicht einfach zurückdrehen und von vorn beginnen. Sie können sich nur vornehmen, beim nächsten Mal alles anders zu machen.«
Hannelore schluckte. »Danke, Fredi… für Ihre Offenheit.«
Er lächelte ein wenig. »Das haben Sie von mir ja offensichtlich auch erwartet, nicht wahr?«
»Ja, ich denke schon«, gab Hannelore leise zu, dann erhob sie sich. »Ich muß wieder zurück.«
Manfred stand ebenfalls auf und bot ihr seinen Arm. »Ich glaube, so geht es sich für Sie ein bißchen leichter. Der Weg bis zur Klinik ist ja doch ziemlich weit.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Erst als man schon die Türen des rückwärtigen Eingangs erkennen konnte, sah Hannelore ihren Begleiter an.
»Es schickt sich für mich wahrscheinlich nicht, das zu fragen… immerhin bin ich eine verheiratete Frau, aber… werden Sie mich einmal besuchen, solange ich noch hier bin?«
Manfred nickte ohne zu zögern. »Von Herzen gern, Hanni.«
*
Eine Woche hatte Lena Kaufmann abgewartet, dann befolgte sie Dr. Daniels Rat und überraschte ihren Mann in der Toilette. Erschrocken zuckte er zusammen und wollte sofort den Druckspüler betätigen, doch Lena legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Wie lange willst du noch davonlaufen, Horst?« fragte sie sanft.
Scham und Verlegenheit überzogen sein Gesicht. »Woher weißt du…«
»Liebling, wir sind seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet, und seitdem wasche ich nicht nur meine Wäsche, sondern auch deine«, entgegnete Lena. »Glaubst du wirklich, da würden mir diese rötlichen Flecken nicht auffallen?«
Die Röte auf Horsts Gesicht vertiefte sich noch, und plötzlich sah er den Besuch von Dr. Daniel in einem anderen Licht.
»Er weiß es also auch«, vermutete er. »Deshalb hat er dieses Thema angeschnitten.« Er schwieg kurz, bevor er voller Bitterkeit hinzufügte: »Und ich bin darauf reingefallen.«
»Horst.« Zärtlich legte Lena beide Hände um sein Gesicht. »Ich liebe dich, und ich habe Angst um dich. Deshalb wußte ich mir einfach keinen anderen Rat, als Dr. Daniel ins Vertrauen zu ziehen. Ich dachte, wenn er dir sagt, wie gefährlich das sein kann…«
Horst wich ihrem Blick aus. »Jetzt hältst du mich für einen Feigling, nicht wahr? Ein Mann, der sich vor ein paar harmlosen Untersuchungen fürchtet.«
Doch Lena schüttelte entschieden den Kopf. »Du bist kein Feigling, Horst. Diese Angst ist doch ganz natürlich. Glaubst du denn, ich hätte im umgekehrten Fall keine Angst? Aber es hat keinen Sinn, sich vor der Diagnose zu verstecken. Liebling, bitte, laß dich untersuchen. Dr. Scheibler ist ein guter und überaus rücksichtsvoller Arzt.«
Horst zögerte noch, dann nickte er. »Also schön, fahren wir in die Klinik.«
Lena atmete auf, obwohl sie sich bereits vor dem Ergebnis der Untersuchungen fürchtete. Wenn sich Horst nun zu spät zu diesem Schritt entschlossen hatte? Wenn diese Krankheit, an der er zweifellos litt, ihr den liebsten Menschen wegnehmen würde? Gewaltsam zwang Lena ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Gemeinsam fuhren sie zur WaldseeKlinik. Während Lena schweren Herzens ihren Dienst antrat, nahm Horst in der Eingangshalle Platz. Lena hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, ihren Mann persönlich beim Chefarzt anzumelden. Das tat sie dann auch unmittelbar nach der Dienstübergabe.
»Ich hoffe, es ist nicht allzu schlimm, weil mein Mann nun ganz ohne Termin kommt«, fügte sie am Ende hinzu.
»Das meinen Sie ja wohl nicht ernst, Oberschwester Lena«, entgegnete Dr. Scheibler. »Sie sollten mich mittlerweile gut genug kennen, um zu wissen, daß ich nicht auf Termine beharre. Manchmal geht es zwar nicht anders, aber wenn jemand zu mir kommt