»Ein Leben an der Dialyse übersteht Papa nicht«, erklärte Uschi verzweifelt. »Er wird daran zugrunde gehen.«
*
Hannelore wagte sich den ganzen Vormittag keinen Meter vom Telefon weg. Am liebsten wäre sie sowieso aus dem Krankenhaus geflüchtet und in die ThierschKlinik geeilt, um in der Nähe ihres Vaters zu sein.
Dann endlich klingelte das Telefon, und Hannelore riß den Hörer förmlich an ihr Ohr.
»Mama?« Sie schrie es fast hinein, und als sie das Schluchzen am anderen Ende der Leitung hörte, dachte sie gleich an das Allerschlimmste. »Nein! O Gott, nein!«
»Hanni.« Es war Uschis Stimme, die jetzt erklang. »Sie mußten Papa beide Nieren entfernen. Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja«, flüsterte Hannelore betroffen. »Ausgerechnet Papa…«
»Der Professor hat ihn auf die Liste der Organempfänger gesetzt, aber Papas Gewebetyp ist äußerst selten… nicht einmal ich habe denselben, dabei bin ich seine Tochter…«
Hannelore reckte sich hoch. »Ich bin auch seine Tochter.« Sie legte den Hörer auf und lief aus ihrem Zimmer. Wie gehetzt blickte sie sich um, dann sah sie Dr. Daniel aus dem Schwesternzimmer kommen.
»Herr Doktor!« rief sie mit sich überschlagender Stimme. »Ich muß wissen, ob ich denselben Gewebetyp habe wie mein Vater! Können Sie mich in die ThierschKlinik bringen…«
»Langsam, Frau Jung«, bat Dr. Daniel. »Was ist denn überhaupt los?«
»Meinem Vater mußten beide Nieren entfernt werden«, erzählte Hannelore aufgeregt. »Ich kenne ihn… ein Leben lang Dialyse… damit wird er nicht fertig. Uschi sagt, er hätte einen seltenen Gewebetyp, aber ich bin doch seine Tochter. Vielleicht…«
»Dr. Scheibler wird den Test machen«, fiel Dr. Daniel ihr sanft ins Wort. »Er kann das auch. Kommen Sie, Frau Jung.«
Als das Testergebnis vorlag, rief Dr. Scheibler persönlich bei Professor Thiersch an und gab ihm die nötigen Werte durch.
»Das ist ja nahezu ideal«, stellte der Professor fest. »Ich werde sofort im Transplantationszentrum anrufen und einen Termin vereinbaren. Allerdings gehe ich davon aus, daß Sie die Patientin über die Risiken aufklären werden.«
»Selbstverständlich, Herr Professor«, sicherte Dr. Scheibler zu, doch ein einziger Blick in Hannelores Gesicht bewies ihm, daß er sich das eigentlich sparen konnte. Der Entschluß der jungen Frau stand fest – gleichgültig, was Dr. Scheibler an Argumenten vorbringen würde. Hannelore Jung würde kein Risiko scheuen, um ihrem Vater zu helfen.
*
Seit jenem unerfreulichen Gespräch mit Dr. Daniel hatte sich Harald Jung in der Klinik nicht mehr sehen lassen. Erst an Hannelores Entlassungstag tauchte er wie aus dem Boden gewachsen plötzlich wieder auf.
Sehr ernst blickte Hannelore ihn an.
»Warum?« fragte sie dann nur.
Harald erwiderte ihren Blick. »Ich wollte euch dieselben Schmerzen zufügen, die ich selbst durchleiden mußte.«
Hannelore fürchtete sich vor ihrer nächsten Frage. »Dann hast du mich… nie geliebt? Es war… immer nur Rache?«
Harald nickte ohne zu zögern. Es hatte keinen Sinn mehr zu lügen oder gar eine nie empfundene Liebe zu heucheln.
Fassungslos schüttelte Hannelore den Kopf. »Ich verstehe es einfach nicht. Warum ausgerechnet meine Familie?«
»Sie ist an allem schuld!« stieß Harald haßerfüllt hervor.
»Sie?«
»Deine Stiefmutter«, klärte Harald sie auf. »Hätte sie damals meinen Vater geheiratet…« Er stockte, doch es war schon zu spät. Hannelore begriff die Zusammenhänge bereits.
»Mama war also die Frau, die dein Vater liebte und die dann einen anderen Mann geheiratet hat«, flüsterte sie betroffen. »Wieso hat sie das nicht gewußt? Ich meine… wenn sie deinen Vater kannte, dann hätte sie bei deinem Namen doch zumindest stutzig werden müssen.«
»Ich wurde ein Leben lang nur herumgeschubst«, entgegnete Harald voller Bitterkeit. »Dabei sah anfangs alles so gut aus. Ich war sieben, als mein Vater deine Stiefmutter kennenlernte. Er hat sie geliebt, und ich habe sie vergöttert, aber dann trat dein Vater in ihr Leben. Sie hat ihn geheiratet und dir die Mutter ersetzt, die ich mir gewünscht hatte. Mein Vater heiratete die nächstbeste Frau, die ihm über den Weg lief. Ich mußte weg von meiner Heimat… meinen Freunden… und durchlebte dabei die Hölle. Als mein Vater starb, wurde alles noch viel schlimmer… bis meine Stiefmutter dann ein zweites Mal heiratete. Ich wurde von meinem neuen Vater adoptiert und bekam den Namen Jung. Ich glaube, er konnte mich ganz gut leiden.« Er schwieg eine Weile. »Ich war fast dreiundzwanzig, als ich endlich wieder nach München kam. Von hier aus war es nicht weit bis Steinhausen und so machte ich mich auf die Suche nach der Frau, die ich mir einst als Mutter gewünscht hatte. Es war nicht schwierig, sie zu finden und die Tatsache, daß sie zwei Töchter hatte, machte alles noch viel einfacher. Deine Schwester war mit ihren damals fünfzehn Jahren zu jung für mich, also fiel meine Wahl auf dich.« Er lächelte herablassend. »Es war ein Kinderspiel, dich herumzukriegen, und als du von deinen Eltern die Wahrheit erfahren hast, bedurfte es nur noch ein paar gezielter Verdächtigungen, um dich gegen deine Eltern und deine Schwester aufzuhetzen.«
»Ich war also von Anfang an nur ein Instrument deiner Rache.« Hannelore konnte es noch immer nicht glauben. Ihre Ehe war tatsächlich nichts als Lüge gewesen. »Beinahe hätten wir ein Kind gehabt.«
Ungerührt zuckte Harald die Schultern. »In diesem Spiel mußte ich eben auch ein paar schlechte Karten einstecken. Die Ehe mit dir war gelegentlich recht anstrengend. Dein ständiges Gesäusel von Liebe… während ich für euch alle nur Haß empfand.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Du und dein Vater… ihr habt mein Leben zerstört.«
»Ich glaube, das reicht jetzt«, mischte sich Dr. Daniel in diesem Moment ein. Er hatte gesehen, wie Harald angekommen war, und sich sicherheitshalber in der Nähe aufgehalten, um notfalls eingreifen zu können. Dieser Notfall schien ihm nun gekommen zu sein.
Harald fuhr herum. »Was wollen Sie denn schon wieder?«
Dr. Daniel blieb bewundernswert ruhig. »Herr Jung, Ihr Haß und Ihre Rachegefühle haben in all den Jahren bedenkliche Formen angenommen. Ich rate Ihnen dringend, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.«
»Soll ich Ihnen sagen, was Sie mit Ihrem Rat tun können?« fragte Harald herausfordernd.
»Nein, ich kann es mir auch so vorstellen«, entgegnete Dr. Daniel ruhig. »Aber wenn Sie meinen Rat nicht befolgen wollen, dann hören Sie sich wenigstens meine Bitte an. Sie haben das Glück dieser Familie beinahe zerstört. Lassen Sie es dabei bewenden, und gehen Sie weg von hier.«
Harald nickte. »Das können Sie haben.« Er sah Hannelore an. »Ich will nur noch die Scheidung.«
»Ich auch«, erwiderte Hannelore tonlos. Sie hatte das Gefühl, als wäre alles in ihr zu Eis erstarrt. Wie sollte sie nach alldem jemals wieder Liebe für einen Mann empfinden?
Sie sah Harald nach, der jetzt in sein Auto stieg und davonfuhr.
»Er hat acht Jahre meines Lebens zerstört«, murmelte sie, dann drehte sie sich zu Dr. Daniel um… wie sie zumindest dachte. Doch vor ihr stand nicht der Arzt, den sie eigentlich erwartet hatte, sondern Manfred Kern.
»Ich habe wohl mehr mitbekommen, als sich für mich schicken würde«, gestand er etwas verlegen. »Normalerweise lausche ich nicht, aber in diesem Fall… vielleicht war es ja sogar ganz gut.«
Hannelore schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nach all dem nicht gleich auf eine neue Beziehung einlassen. Es würde bestimmt schiefgehen, Fredi.«
Manfred