»Doch, Oberschwester Lena, das müssen Sie sogar annehmen«, betonte Dr. Scheibler. »Also, in einer halben Stunde treffen wir uns in der Eingangshalle.
Lena schüttelte den Kopf. »Herr Chefarzt, Sie haben Familie. Ihre Frau… ihre vier Kinder… die werden Sie doch alle längst sehnsüchtig erwarten…«
»Meine Frau hat für Notfälle immer Verständnis, und das hier ist in meinen Augen ein Notfall.« Er legte beide Hände auf Lenas Schultern. »Machen Sie sich um mich keine weiteren Gedanken mehr. In einer halben Stunde fahren wir nach München.«
Aufschluchzend lehnte sich Lena für einen Moment gegen Dr. Scheibler.
»Danke, Herr Chefarzt«, flüsterte sie.
*
Als Hannelore am nächsten Morgen erwachte, saß Manfred Kern neben ihrem Bett. Erschrocken, weil sie nicht mit ihm gerechnet hatte, aber auch ein bißchen erfreut, weil er sein Versprechen doch gehalten hatte, fuhr die junge Frau hoch.
»Tut mir leid«, meinte Manfred mit seinem sympathischen Lächeln. »Erschrecken wollte ich Sie nicht.«
»Haben Sie auch nicht… fast nicht«, berichtigte sich Hannelore, dann lächelte sie ebenfalls. »Ich wäre jetzt vermutlich ebenso erschrocken, wenn meine Mutter am Bett gesessen hätte. Es ist einfach… wenn man gerade aufwacht…« Sie zuckte die Schultern. »Aber ich freue mich, daß Sie mich besuchen. Wenn ich ehrlich bin… ich hatte nicht damit gerechnet.«
»Ich pflege meine Versprechen zu halten«, entgegnete Manfred ernster werdend. Er zögerte einen Moment, dann griff er nach Hannelores Hand, doch als er ihr Zusammenzucken spürte, ließ er sie sofort wieder los. »Haben Sie mit Dr. Daniel gesprochen?«
Hannelore nickte. »Der Tod des Babys war nicht meine Schuld. Es hätte sowieso nicht überlebt. Trotzdem werde ich nie wieder so leichtsinnig sein.« Sie senkte den Kopf. »Vorausgesetzt, ich werde überhaupt jemals wieder schwanger.«
»Warum denn nicht?« hakte Manfred nach. »Sie sind doch noch jung. Vierundzwanzig oder fünfundzwanzig würde ich schätzen.«
Doch Hannelore schüttelte den Kopf. »Darum geht es gar nicht. Es ist vielmehr… mein Mann… ich glaube, wenn ich aus der Klinik entlassen werde… wir werden uns wohl trennen… besser gesagt, ich werde mich von ihm trennen, aber ich denke, daß das auch in seinem Sinne sein wird.«
Manfred war tief betroffen von der Traurigkeit, die er bei Hannelore spürte, gleichzeitig fühlte er, wie sein Herz ein wenig heftiger zu klopfen begann. Seit dieser zufälligen Begegnung am Waldsee hatte er immerzu an Hannelore denken müssen, doch er hatte sich gezwungen, sie aus seinem Kopf zu verbannen… und aus seinem Herzen. Sie war verheiratet, das hatte er nicht vergessen wollen. Aber nun sah es so aus, als könnte der Weg zu ihr eines Tages vielleicht doch offenstehen.
»Wegen… unserem zufälligen Zusammentreffen?« wollte Manfred wissen, obwohl er fast sicher war, daß er nicht der Grund für Hannelores Entschluß war. »Ich meine… es war doch ganz harmlos.«
Hannelore schüttelte den Kopf. »Damit hat es gar nichts zu tun. Es ist… viel komplizierter.« Sie lächelte ihn entschuldigend an. »Ich kann nicht darüber sprechen. Wir kennen uns kaum, und… ich verstehe die Zusammenhänge selbst noch nicht ganz.«
Manfred wollte etwas erwidern, doch ein ganz zaghaftes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab. Unwillkürlich zuckte Hannelore zusammen, doch als sich die Tür öffnete, entspannte sie sich.
»Uschi«, flüsterte sie und streckte sogleich impulsiv eine Hand aus.
Die junge Frau trat ein und musterte Manfred mit einem erstaunten Blick.
»Ach, du hast Besuch«, murmelte sie verstört.
Manfred stand sofort auf. »Nein, nein, ich sollte schon längst gehen.«
»Uschi, das ist Herr Kern«, stellte Hannelore ihren Besucher vor, ehe er das Zimmer verlassen konnte. »Wir haben uns vor einigen Tagen zufällig im Klinikpark getroffen, und heute hat er mich kurz besucht.« Sie sah Manfred an, während sie auf die junge Frau wies. »Meine Schwester Uschi.«
Mit einem freundlichen Lächeln reichte Manfred ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er nickte den beiden Frauen zu. »Nun will ich Sie aber nicht länger stören. Einen schönen Tag noch.«
»Ein sympathischer Mann«, urteilte Uschi, als er gegangen war, dann sah sie ihre Schwester an. »Ist es dir überhaupt recht, daß ich… ich meine… Mama hat mich angerufen.«
Wieder streckte Hannelore eine Hand aus, und diesmal ergriff Uschi sie.
»Die Situation ist ziemlich verfahren«, meinte Hannelore leise.
Uschi nickte. »Noch viel verfahrener, als du jetzt denkst.« Sie atmete tief durch. »Mama wollte es dir eigentlich selbst sagen, aber… sie kann Papa im Moment nicht allein lassen.«
Hannelore erschrak. »Was ist mit Papa? Hatte er einen Unfall?«
Uschi schüttelte den Kopf und setzte sich spontan auf die Bettkante. »Papa ist krank. Er liegt seit gestern abend in der
ThierschKlinik in München und morgen soll er operiert werden. Bis jetzt weiß man nur, daß er einen Tumor an der Niere hat.«
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen schlug Hannelore beide Hände vor den Mund.
»Krebs?« brachte sie mit heiserer Stimme hervor.
»Möglicherweise«, entgegnete Uschi ernst. »Vielleicht ist der Tumor aber auch ganz harmlos.«
Hilflos schluchzte Hannelore auf. »Ich muß zu ihm. Meine Güte… wenn ich doch nur früher gewußt hätte…«
Obwohl Uschi die jüngere von ihnen war, nahm sie ihre Schwester jetzt doch tröstend in die Arme.
»Deine Liebe zu Harry hat dich blind und taub gemacht«, meinte sie. »Mach dir deswegen bitte keine Vorwürfe mehr. Wichtig ist nur, daß du dich in Zukunft anders verhältst.« Sie hielt Hannelore ein wenig von sich ab, so daß sie ihr in die Augen sehen konnte. »Hanni, du brauchst jetzt auch noch Erholung, außerdem denke ich, daß wir Papa nicht den Eindruck vermitteln sollten, er könnte diese Operation vielleicht nicht überleben.«
»Und wenn er sie nicht überlebt?« fragte Hannelore verzweifelt. »Wenn ich ihm nicht mehr sagen kann, wie lieb ich ihn habe.« Wieder vergrub sie das Gesicht in den Händen. »O Gott, warum erkenne ich das erst so spät?«
In diesem Moment trat Dr. Daniel ins Zimmer und erfaßte die Lage mit einem Blick.
»Sie wissen also, daß Ihr Vater in der ThierschKlinik ist«, vermutete er.
Hannelore nickte unter Tränen. »Meine Schwester hat es mir gerade gesagt.« Bittend sah sie den Arzt an. »Ich muß zu ihm. Ich will, daß er weiß…« Sie brachte die restlichen Worte nicht mehr über die Lippen.
Dr. Daniel spürte, wie wichtig dieses Gespräch für Hannelore war, und er ahnte, daß es auch für Horst Kaufmann von großer Bedeutung sein würde.
»Eine Entlassung kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verantworten«, erwiderte Dr. Daniel. »Allerdings könnte ich Sie für ein paar Stunden beurlauben.« Er sah Uschi an. »Ich nehme an, Sie sind mit dem Auto hier, oder?«
Die junge Frau nickte. »Ich werde Hannelore in die ThierschKlinik fahren und dann wieder zurückbringen.«
Dr. Daniel wandte sich seiner Patientin zu. »Sie müssen mir allerdings Papiere unterschreiben, daß Sie die Klinik auf eigenen Wunsch verlassen und pro forma muß ich Sie auch auf gesundheitliche Risiken hinweisen.« Er lächelte ein wenig. »Sie müssen keine Angst haben. Wenn es wirklich ein Risiko wäre, würde ich Sie nicht gehen lassen.«
Hannelore nickte. »Das weiß ich. Es geht da nur um verwaltungsrechtliche Dinge.« Dankbar drückte sie Dr. Daniels Hand. »Ich werde Ihnen nie vergessen, daß Sie mir das Gespräch mit meinem Vater überhaupt