Dr. Daniel beschloß, die günstige Gelegenheit gleich beim Schopf zu ergreifen.
»Nein, nein, Herr Kaufmann, so berufsbezogen war unser Gespräch gar nicht, obwohl…« Er sah Lena an. »Der Fall dieses jungen Mannes ist tatsächlich recht tragisch, nicht wahr?«
Lena nickte nur, dann verließ sie rasch den Raum, um eine weitere Tasse zu holen, während Horst und Dr. Daniel Platz nahmen.
»Wir hatten uns vorhin über einen Patienten unterhalten, der unglücklicherweise sehr spät zu uns in die Klinik gekommen ist«, fuhr Dr. Daniel fort. »Dabei hatte er sehr ernste Symptome wie Blut im Urin.« Er sah, wie Horst errötete, ging aber darüber hinweg und seufzte. »Es ist nur schwer verständlich, warum manche Leute wirklich bis zum Schluß warten, ehe sie sich einem Arzt anvertrauen.«
Horst nickte, obwohl wenig überzeugt.
»Sind Sie nicht dieser Meinung?« hakte Dr. Daniel sofort nach.
»Doch, eigentlich schon«, murmelte Horst. »Allerdings… gerade in einem solchen Fall… ich glaube, ich würde mich ebenfalls genieren, so etwas einem Arzt zu sagen.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht wurden wir einfach noch zu… wie soll ich sagen… zu altmodisch erzogen. Alles, was unterhalb der Gürtellinie war, durfte nicht erwähnt werden.«
»Blut im Urin kann ein erstes Anzeichen für eine sehr ernste, manchmal lebensbedrohende Krankheit sein«, entgegnete Dr. Daniel. »In einem solchen Fall könnte falsche Scham das eigene Todesurteil bedeuten.«
Horst erschrak sichtlich. »Wirklich?« Er hatte Mühe, sich zu fassen, und schwenkte dann auf das ursprüngliche Thema ein. »Bei diesem jungen Mann… ist es da schon… zu spät?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, er kam gerade noch rechtzeitig in unsere Klinik. Dr. Scheibler, unser Chefarzt, hat gleich die nötigen Untersuchungen durchgeführt. Jetzt können wir den jungen Mann gezielt behandeln.«
Horst versank in nachdenkliches Schweigen.
»Was für Untersuchungen werden in einem solchen Fall eigentlich gemacht?« erkundigte er sich schließlich und fügte errötend hinzu: »Ich frage nur aus Interesse.«
Dr. Daniel nickte. Er sah, wie Lena mit der Kaffeetasse abwartend an dem Durchgang zum Wohnzimmer stehenblieb, weil sie dieses Gespräch nicht unterbrechen wollte.
»Zuerst werden Untersuchungen aus dem Urin durchgeführt, anschließend Ultraschallaufnahmen und möglicherweise Röntgenbilder gemacht«, antwortete Dr. Daniel. »Letzteres oftmals mit Hilfe eines Kontrastmittels. Wenn sich nach diesen Untersuchungen ein begründeter Verdacht auf Tumore in der Harnblase ergibt, wird sich dann auch noch eine sogenannte Zystoskopie, eine Blasenspiegelung anschließen.«
Horst schluckte schwer. »Das klingt aber ziemlich unangenehm.«
»Dr. Scheibler ist ein erstklassiger Arzt«, betonte Dr. Daniel, »der sämtliche Untersuchungen äußerst rücksichtsvoll vornimmt. Eine Blasenspiegelung wird in solchen Fällen sogar oftmals unter Vollnarkose durchgeführt, weil sie für Männer allgemein unangenehmer, meistens sogar schmerzhafter ist als für Frauen.«
Horst nickte, dann wechselte er abrupt das Thema. In diesem Moment trat auch Lena wieder zu den beiden Männern und stellte die Kaffeetasse für Horst auf den Tisch. Dabei fing Dr. Daniel einen dankbaren Blick von ihr auf.
Er plauderte noch ein bißchen mit dem Ehepaar, bemerkte die tiefe Verbundenheit, die zwischen Lena und Horst herrschte, und verabschiedete sich schließlich.
»Ich glaube, ich habe ihn zumindest nachdenklich gemacht«, meinte Dr. Daniel, als Lena ihn hinausbegleitete. »Nun sollten Sie versuchen, ihn mit seinen Beschwerden direkt zu konfrontieren. Vielleicht können Sie es einrichten, daß Sie ihn einmal in der Toilette überraschen.« Mit einem verlegenen Lächeln zuckte er die Schultern. »Das ist vermutlich nicht die feinste Art, aber wenn er innerhalb der nächsten Tage nicht von sich aus etwas unternimmt, wird es wohl Ihre einzige Möglichkeit sein, ihn zum Arztbesuch zu drängen.«
Dankbar drückte Lena seine Hand. »Ich bin wirklich sehr froh, daß Sie mit Horst gesprochen haben.«
Dr. Daniel lächelte. »Das war doch selbstverständlich, Frau Kaufmann.« Er wurde wieder ernst. »Ich hoffe, daß er bald zu uns in die Klinik kommen wird.«
*
Hannelore Jung erholte sich in körperlicher Hinsicht relativ schnell von den beiden Eingriffen. Wie sehr sie unter dem Verlust ihres Babys litt, konnte Dr. Daniel nur vermuten, denn in dieser Richtung erzählte Hannelore ihm kaum etwas. Das lag nicht an mangelndem Vertrauen, sondern daran, daß es ihr schwerfiel, darüber zu sprechen.
Auch zu Harald sagte sie nichts mehr über den Schmerz, der noch in ihr tobte, weil sie fühlte, daß er dafür wenig Verständnis aufbrachte. Er empfand die Fehlgeburt vermutlich schon als schlimm, dachte aber wohl, daß Hannelore jung genug sei, um erneut schwanger zu werden.
Vorsichtig versuchte Hannelore aufzustehen. Dr. Daniel hatte ihr kleine Spaziergänge erlaubt, und die junge Frau sehnte sich nach dem langen Aufenthalt in der Intensivstation und den vergangenen Tagen, die sie zwar hier in dem hübschen Einzelzimmer aber eben auch im Bett hatte verbringen müssen, nach ein bißchen frischer Luft.
Langsam, weil die Bauchschmerzen beim Gehen schlimmer waren, verließ Hannelore ihr Zimmer und ging zum Lift, der sie das eine Stockwerk nach unten brachte. Durch den rückwärtigen Ausgang verließ sie die Klinik und spazierte gemächlich über die gewundenen Pfade, die durch den Park führten. Entzückt sah sich Hannelore um. Dieser Klinikpark mit den schattenspendenden Bäumen und dem blumenübersäten Rasen hatte mehr Ähnlichkeit mit einer natürlich entstandenen, bunten Almwiese als mit einem eigens angelegten Park.
Hannelore war von diesem beschaulichen Fleckchen so angetan, daß sie bis zum Waldsee hinunter ging, der idyllisch zwischen alten Baumriesen lag. Unwillkürlich dachte Hannelore, wie schön es sein müßte, in diesem zauberhaften See zu schwimmen. Vorsichtig ging sie in die Hocke und tauchte die Fingerspitzen in das glasklare Wasser, zog sie aber schnell wieder zurück.
»Puh, ist das kalt«, murmelte sie.
»Der See wird von einer eisigen Bergquelle gespeist«, erklang hinter ihr ganz unerwartet die Stimme eines Mannes.
Erschrocken blickte sich Hannelore um und wollte wieder aufstehen, was ihr jedoch nicht ganz einfach fiel. Der junge Mann griff helfend an ihren Arm.
»Fühlen Sie sich nicht gut?« fragte er dabei besorgt.
»Doch, doch, es geht schon«, beeilte sich Hannelore zu versichern, dann lächelte sie ein wenig. »Ich schätze, ich habe mir mit diesem Spaziergang doch ein bißchen zuviel zugemutet. Dr. Daniel würde sicher schimpfen, wenn er wüßte, wie weit ich gegangen bin. Eigentlich hat er mir nämlich nur kleine Spaziergänge erlaubt.«
»Da drüben steht eine Bank«, meinte der junge Mann hilfreich. »Ich würde vorschlagen, wir setzen uns ein wenig und wenn Sie sich ein bißchen ausgeruht haben, begleite ich Sie zur Klinik zurück.« Er lächelte auf eine sehr einnehmende, sympathische Art. »Ich bin nämlich ebenfalls auf dem Weg dorthin, weil ich meine Schwester besuchen möchte.«
»Ist sie auch eine Patientin von Dr. Daniel?« fragte Hannelore impulsiv, dann errötete sie ein wenig. »Entschuldigen Sie, das geht mich natürlich gar nichts an.«
Der junge Mann lachte. »Nicht so tragisch. Und um Ihre Frage zu beantworten: Nein, meine Schwester ist nicht als Patientin in der Klinik, sondern als Ärztin. Dr. Alena Reintaler.«
Hannelore nickte. »Frau Dr. Reintaler ist bei der Visite immer dabei. Sie ist sehr nett.«
Der junge Mann grinste. »Es wird sie freuen, das zu hören. Mich natürlich auch«, fügte er mit schelmischem Blick hinzu. »Immerhin verdankt Alena es ausschließlich mir und meinem streikenden Auto, daß sie hier ist.«
Verständnislos