Hannelore atmete auf. »Wenn ich schuld gewesen wäre… ich glaube, das hätte ich niemals verkraftet.« Dankbar griff sie nach Dr. Daniels Hand. »Eines schwöre ich Ihnen, Herr Doktor: Sollte ich jemals wieder schwanger werden, dann komme ich zu Ihnen. Nie wieder werde ich so leichtsinnig sein.«
Dr. Daniel beschloß, an dieser Stelle einzuhaken. »Warum waren Sie eigentlich so leichtsinnig?«
Hannelore seufzte tief auf. »Das hatte verschiedene Gründe. Ich habe früher in München gearbeitet und war dort bei einem sehr guten Gynäkologen, aber dann haben Harry und ich geheiratet, und er wollte, daß ich mit der Arbeit aufhören solle.« Sie zuckte die Schultern. »Irgendwann habe ich mich halt überreden lassen. Ich war dann einmal bei einer Ärztin in der Kreisstadt, doch die war so grob, daß ich nicht wieder hingehen wollte. Als ich dann schwanger wurde, machte mir meine Stiefmutter den Vorschlag, zu Ihnen zu gehen, aber…« Verlegen senkte sie den Kopf. »Alles, was meine Stiefmutter sagt, ist für mich wie ein rotes Tuch. Ich erwiderte, sie könne sich ihren Dr. Daniel sonstwo hinstecken.« Heiße Scham breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Es tut mir wirklich leid.«
»Damals kannten Sie mich ja noch nicht, also nehme ich Ihre Worte auch nicht persönlich«, beruhigte Dr. Daniel sie. »Nur eines verstehe ich immer noch nicht. Sie sagten zwar, es wäre ganz natürlich, daß Ihre Stiefmutter für Uschi mehr empfinden müßte als für Sie, aber wie konnte es auf Ihrer Seite zu einem so massiven Haß kommen?«
Es war das erste Mal, daß Hannelore diese Frage gestellt wurde. Sicher, ihr Vater hatte es ab und zu angedeutet, aber sie war ihm die Antwort immer schuldig geblieben. Er hatte es aber auch nie so deutlich ausgedrückt wie Dr. Daniel gerade eben.
»Ich… ich weiß es nicht«, murmelte Hannelore. »Anfangs… wissen Sie, ich war damals achtzehn, als meine Eltern mir die Wahrheit sagten. Ich war… betroffen… enttäuscht. Es war ein richtiger Schock, und irgendwie dachte ich plötzlich…« Sie sprach nicht weiter.
»Die mangelnde Liebe Ihrer Stiefmutter zu Ihnen war also nur Einbildung«, folgerte Dr. Daniel, und dabei keimte ein bestimmter Verdacht in ihm auf. »Wurden Sie darin bestärkt?«
Hannelore nickte erst nach einigem Zögern. »Harry sagte, es wäre ganz natürlich. Seine Stiefmutter hätte ihn auch immer geschlagen, während seine Stiefschwester über die Maßen verwöhnt worden sei.«
So ähnlich hatte Dr. Daniel sich die Sache schon vorgestellt, wenn er auch noch immer nicht begreifen konnte, wie Hannelore einen so massiven Haß hatte aufbauen können. Konnte das wirklich nur durch Beeinflussung von außen geschehen sein?
»Frau Jung, denken Sie über meine nächste Frage ganz genau nach, bevor Sie antworten«, bat Dr. Daniel. »Bevor Sie wußten, daß Lena Kaufmann nicht Ihre wirkliche Mutter ist, hatten Sie da jemals das Gefühl, von ihr schlechter behandelt worden zu sein als ihre Stiefschwester?«
Hannelore senkte den Kopf. Seit jenem Tag, an dem sie die Wahrheit erfahren hatte, war es das erste Mal, daß sie wieder über ihre Kindheit und Jugend nachdachte… daß sie Erinnerungen daran überhaupt zuließ.
»Uschi und ich waren mehr als Schwestern«, gestand sie leise. »Wir sind zusammen durch dick und dünn gegangen.«
»Sie hat Sie hier noch nicht ein einziges Mal besucht«, hakte Dr. Daniel sofort nach, obwohl Hannelores Worte keine wirkliche Antwort auf seine Frage gewesen waren.
Die junge Frau nickte. »Harry und ich haben keinen Kontakt mehr zu Uschi und Georg. Die beiden wohnen in München.«
»München ist nur eine halbe Autostunde von Steinhausen entfernt.«
Hannelore nickte. »Harry will den Kontakt zu Uschi nicht. Er hat gehört, wie sie meine Stiefmutter gegen mich aufgehetzt hat. Überhaupt… ich habe zu meinen Eltern ja auch kaum noch Kontakt. Meine Stiefmutter hat mir meinen Vater entfremdet.«
»Sagt das auch Ihr Mann?«
»Harry hat es gehört.«
»Der junge Mann scheint mir aber einiges zu hören«, entfuhr es Dr. Daniel.
Hannelores Kopf ruckte hoch. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Diese Frage werde ich Ihnen beantworten, wenn Sie mir auch endlich eine Antwort geben. Ich hatte Sie gefragt, ob Sie sich jemals vernachlässigt gefühlt haben.«
Zögernd schüttelte Hannelore den Kopf. »Nein, das habe ich nicht. Ich… ich habe eine schöne Kindheit gehabt.«
»Trotzdem glauben Sie, daß Ihre Schwester, mit der Sie einst durch dick und dünn gegangen sind, Ihre Stiefmutter gegen Sie aufhetzen würde? Und Sie glauben auch, daß Ihre Stiefmutter Ihnen den Vater entfremden würde?«
Verwirrung zeichnete sich auf Hannelores Gesicht ab. »Harry würde mich niemals belügen!«
»Eben das sollten Sie herauszufinden versuchen.« Dr. Daniel griff nach ihrer Hand. »Ich wollte vorhin nicht andeuten, daß Ihr Mann Sie absichtlich belügt. Vielleicht hat er einfach nur etwas falsch verstanden. Oder er sucht nach einer Entschädigung für seine eigene schlimme Kindheit. Er wurde vielleicht immer vernachlässigt und will nun jemanden ganz für sich allein – Sie.«
Hannelore dachte eine Weile über diese Worte nach, dann nickte sie. »Ich werde mit ihm sprechen.«
*
Dr. Daniel wollte die Klinik an diesem Tag früher verlassen. Wie jeden Mittwochnachmittag war seine Praxis geschlossen, und er beabsichtigte nach München zu fahren und seine Tochter aus der ThierschKlinik abzuholen. Allerdings kam er nicht einmal bis zum Ausgang, denn Harald Jung stürzte ihm wutentbrannt entgegen.
»Was fällt Ihnen ein, meine Frau gegen mich aufzuhetzen!« fuhr er Dr. Daniel an.
»Ich habe Ihre Frau nicht gegen Sie aufgehetzt«, stellte der Arzt richtig. »Ich habe sie nur aufgefordert, sich mit ihrem Leben objektiv auseinanderzusetzen – und zwar mit ihrem ganzen Leben… mit ihrer Kindheit, ihrer Jugend und auch mit ihrer Ehe.«
»Ich wußte von Anfang an, daß Sie mit meiner Schwiegermutter unter einer Decke stecken!« hielt Harald ihm vor. »Sie ist es doch, die Sie zu allem angestiftet hat.«
»Warum sehen Sie denn überall Feinde, Herr Jung?« fragte Dr. Daniel ruhig. »Mich hat niemand angestiftet. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Ich versuche zu helfen, und gerade in diesem Fall habe ich so viele unglückliche Menschen gesehen – aber eben auch ein Bild aus glücklichen Tagen. Diese beiden Dinge passen nicht zusammen. Ein Leben, das glücklich war, kann durch die Wahrheit nicht so unglücklich werden.«
»Waren Sie ein Adoptivkind?« fragte Harald voller Bitterkeit.
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe ein Adoptivkind. Sie ist sechs und weiß, daß meine Frau und ich nicht ihre wirklichen Eltern sind. Trotzdem liebt sie uns, und wir lieben sie, als wäre sie unsere leibliche Tochter.« Er schwieg kurz. »Ich weiß aber auch, daß Sie mit Ihrer Stiefmutter nicht so viel Glück hatten.«
»Sie hat mich geschlagen«, brach es aus Harald heraus. »Wenn ich nicht gehorcht habe, bekam ich nichts zu essen. Dabei hätte alles so schön werden können. Mein Vater kannte doch die richtige Frau, aber dann hat sie einen anderen geheiratet… wurde seinem Kind die liebevolle Mutter, die ich mir gewünscht hatte.«
Dr. Daniel war von dieser Tragik tief betroffen. Die schlimmen Jugenderlebnisse von Harald Jung mußten dazu geführt haben, daß aus ihm ein rachsüchtiger Mann geworden war. Weil er selbst gelitten hatte, wollte er offensichtlich auch das Verhältnis zwischen Hannelore und Lena vergiften – und es war ihm über Jahre hinweg gelungen.
»Empfinden Sie das, was Sie getan haben, nicht als Unrecht?« fragte