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Einen Tag vor der geplanten Nierentransplantation machte Horst plötzlich einen Rückzieher.
»Ich kann das nicht«, stieß er hervor, sah erst seine Frau, dann seine beiden Töchter an. Schließlich blieb sein Blick an Hannelore hängen. »Ich kann einfach nicht verlangen, daß du dich für mich verstümmeln läßt.«
Sehr sanft streichelte Hannelore über seine Wange. »Ich lasse mich nicht verstümmeln, Papa. Ich spende dir eine Niere, schließlich brauche ich ja keine zwei.«
Horst schüttelte den Kopf. »So darfst du es nicht sehen, Hanni. Wenn du einmal eine solche Krankheit bekommen würdest, dann… dann wärst du auch auf einen Spender angewiesen. Hanni… überleg es dir…«
»Das habe ich bereits, und mein Entschluß steht unumstößlich fest.« Sie griff nach der Hand ihres Vaters und drückte sie. »Papa, Dr. Scheibler hat mir alles haarklein erklärt, und der Arzt, der die Transplantation morgen vornehmen wird, hat auch mit uns gesprochen. Wir kennen die Risiken. Meine Niere könnte von deinem Körper abgestoßen werden… du wirst ein Leben lang Medikamente gegen diese Abstoßungsreaktion nehmen müssen. Eine harmlose Grippe kann für dich zu einem Todesurteil werden. Papa, du gehst doch ein viel größeres Risiko ein als ich. Wenn du sagen würdest, daß du vor einem solchen Leben Angst hast, dann könnte ich das akzeptieren, aber wenn du nur meinetwegen kneifen willst…« Sie schüttelte den Kopf.
Horst seufzte. »Ich habe Angst vor diesem Leben, andererseits… dem gegenüber steht nur ein Dasein mit der Dialyse, und ich glaube, alles andere ist besser als das.« Hilfesuchend sah er seine Frau an. »Was würdest du an meiner Stelle tun?«
»Wenn mein Gewebetyp mit dem deinen übereingestimmt hätte, wäre ich ebenfalls bereit gewesen, dir eine Niere zu spenden – ohne Wenn und Aber«, antwortete Lena ruhig. »Also, ich an deiner Stelle würde das Geschenk meiner Tochter annehmen. Ich würde mir Sorgen um sie machen… dieselben Gedanken, die du hattest, haben mich auch beschäftigt, aber wie Hanni schon sagte – wir alle kennen die Risiken. Wenn sie trotzdem bereit ist, dir zu helfen, solltest du diese Hilfe nicht ausschlagen.«
Horst nickte nachdenklich, dann blickte er Hannelore wieder an. »Eine letzte Frage habe ich noch, Hanni, und ich erwarte eine absolut ehrliche Antwort. Tust du es, weil du mich liebst oder weil du wegen der vergangenen Jahre ein schlechtes Gewissen hast?«
»Aus beiden Gründen«, antwortete Hannelore ehrlich. »Ja, natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte eine wundervolle Kindheit und Jugend, also hätte ich mehr Vertrauen zu euch haben müssen. Ich hätte wissen müssen, daß all das, was Harry gesagt hat, eine einzige Lüge war. Aber ich liebte ihn, und meine Liebe hat mich für die Wahrheit blind gemacht. Ja, Papa, ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, aber das macht nur einen winzigen Teil meiner Entscheidung aus. Der Hauptgrund ist, daß ich dich liebe… daß ich es nicht ertragen könnte, dich leiden zu sehen.«
Die Worte trieben Horst Tränen in die Augen. Spontan nahm er seine Tochter in die Arme und drückte sie zärtlich an sich.
»Dann lassen wir uns morgen also operieren«, flüsterte er ergriffen. Er schaute Lena an und zog sie und Uschi ebenfalls in diesen engen Kreis. »Wir haben endlich wieder eine Familie.«
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Einen Monat später stattete die gesamte Familie Kaufmann Dr. Daniel einen Besuch ab. Natürlich hatte Lena dem Arzt längst erzählt, daß die Operation ohne Komplikationen gut verlaufen war. Hannelores gespendete Niere arbeitete in Horsts Körper einwandfrei, und der Arzt, der ihn betreute, war guter Dinge, daß das auch so bleiben würde. Zu einer hyperakuten Abstoßung, die innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden erfolgen würde, war es nicht gekommen, und aufgrund der Gewebeähnlichkeit zwischen Vater und Tochter rechnete der Arzt auch nicht mit einer akuten oder chronischen Abstoßungsreaktion, obwohl man dies zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht präzise vorhersagen konnte. Die Medikamente, die Horst nun auf Dauer einnehmen mußte, bargen zwar gewisse Risiken, aber der Arzt hatte gesagt, daß er jede Menge Patienten kennen würde, die damit gut leben. Horst war daher zuversichtlich, daß es bei ihm genauso sein würde und seine eigene Zufriedenheit färbte auch auf den Rest der Familie ab, wie Dr. Daniel nun unschwer feststellen konnte.
»Ich freue mich aufrichtig, daß für Sie letztlich doch noch alles gut ausgegangen ist«, meinte er.
»Daran waren Sie nicht unmaßgeblich beteiligt«, entgegnete Hannelore. »Sie waren es, der mir die Augen geöffnet hat.« Sie senkte einen Augenblick lang den Kopf. »Harry ist seit einer Woche übrigens in psychiatrischer Behandlung.«
Dr. Daniel war sichtlich erstaunt. »Ich hätte nicht gedacht, daß er meinen Rat befolgen würde.«
»Hat er auch nicht«, erwiderte Hannelore. »Er ist betrunken Auto gefahren und hat einen Unfall gebaut – nicht schlimm, fast nur Blechschaden, er selbst trug allerdings einige leichte Verletzungen davon. Aber in dem Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde, hat man seine psychische Störung festgestellt. Er muß sich dort wie ein Wilder gebärdet haben. Daraufhin wurde er in eine psychiatrische Klinik überstellt. Vor dem Gesetz bin ich ja immer noch seine Ehefrau – so lange, bis die Scheidung rechtskräftig ist. Daher wurde mir mitgeteilt, daß die Behandlung seines offensichtlich schweren Kindheitstraumas dringend erforderlich wäre. Aufgrund einer akuten Selbstgefährdung kann man ihn im Moment noch zwangsweise in der Klinik behalten.«
Dr. Daniel nickte teilnahmsvoll. »Das ist eine tragische Geschichte, aber ich bin sicher, daß man ihm helfen kann, wenn er es nur zuläßt.«
»Das wird das Problem sein«, fürchtete Hannelore, dann zuckte sie die Schultern. »Er tut mir leid, aber an meinem Entschluß, mich scheiden zu lassen, wird das nichts ändern – ganz davon abgesehen, daß Harry ja selbst die Ehe gar nicht aufrechterhalten will. Schließlich hat er mich nur geheiratet, um sich an Mama rächen zu können.«
»Das trifft mich am meisten«, mischte sich Lena jetzt ein. »Es ist schrecklich für mich, daß ich diesem Jungen einst so weh getan habe.« Sie seufzte leise. »Dabei hat er die Situation damals völlig mißverstanden. Zwischen seinem Vater und mir gab es nie mehr als eine harmlose Freundschaft. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, und als seine Frau später dann auf so tragische Weise verunglückte, habe ich nur versucht, ihn ein bißchen zu trösten… ihm über die ersten schweren Monate hinwegzuhelfen. Zu jenem Zeitpunkt kannte er auch seine spätere Frau schon, und er hat sie sehr geliebt, das hat er mir oft genug gesagt. Ich kannte sie ja auch, und niemand konnte ahnen, daß sie den armen Jungen einmal so mißhandeln würde.«
»Man kann eben doch in keinen Menschen hineinschauen«, meinte Dr. Daniel.
In diesem Moment trat noch jemand in diesen Kreis: Manfred Kern.
»Ich habe gehört, daß ihr wieder in Steinhausen seid«, meinte er, sah dabei aber nur Hannelore an. »Da hat es mich zu Hause natürlich nicht mehr gehalten.« Er lächelte geheimnisvoll. »Im übrigen ist mein Zuhause jetzt nicht mehr sehr weit weg von hier. Ich habe Würzburg nämlich mit Steinhausen vertauscht.«
»Fredi! Das ist ja wunderbar!« rief Hannelore begeistert.
Wohlwollend betrachtete Dr. Daniel die beiden jungen Menschen. Er wußte, daß es für Hannelore noch viel zu früh war, um an eine Liebesbeziehung zu denken, doch die Freundschaft zu Manfred tat ihr augenscheinlich sehr gut. Und Dr. Daniel war sicher, daß aus dieser Freundschaft eines Tages mehr werden würde… es stand in ihren Augen.
Zufrieden blickte Dr. Daniel auf das Bild, das sich ihm bot – ein Bild, das von den kommenden, glücklichen Tagen dieser Familie zeugte…
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