»Warum denn?« fragte sie jetzt. »Ich fühle mich hier sehr gut versorgt.«
»So? Und was ist mit deiner Stiefmutter? Gefällt es dir jetzt plötzlich, ihr jeden Tag zu begegnen?« erkundigte sich Harald ihn herausforderndem Ton.
»Ich begegne ihr nicht jeden Tag«, entgegnete Hannelore. »Genaugenommen habe ich sie seit jenem Abend nach der Operation gar nicht mehr gesehen, weil sie meine Wünsche in dieser Richtung respektiert. Auch Dr. Daniel tut das.« Sie schwieg kurz. »Im übrigen ist er ein erstklassiger Arzt, zu dem ich großes Vertrauen habe. Ich möchte nicht weg von hier.«
»Auf einmal hast du zu ihm großes Vertrauen«, entgegnete Harald beinahe höhnisch. »Dabei hast du früher jedesmal rot gesehen, wenn nur sein Name gefallen ist.«
»Da war ich noch voreingenommen«, gab Hannelore unumwunden zu, dann senkte sie den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte… ich wäre nicht so stur gewesen. Der Gedanke, daß Dr. Daniel meinem Baby vielleicht hätte helfen können… daß es nicht gestorben wäre, wenn ich zu den Vorsorgeuntersuchungen gegangen wäre…«
»Hat er dir diesen Unsinn etwa eingeredet?« fiel Harald ihr barsch ins Wort.
Hannelore schüttelte den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil.« Sie schwieg kurz. »Ich selbst mache mir diese Gedanken.« Unwillkürlich berührte sie ihren Bauch. »Ich hatte mich auf das Baby gefreut.«
Harald ergriff für einen Augenblick ihre Hand. »Du solltest nicht weiter darüber nachgrübeln. Wir werden wieder ein Baby haben können.« Seine Worte sollten tröstlich klingen, aber es fehlte ihnen jegliche Wärme und Herzlichkeit. Er sagte es, als hätte Hannelore ein nicht besonders wertvolles Schmuckstück verloren, das man bei Gelegenheit durch ein neues ersetzen könnte.
*
Die Nachmittagssprechstunde in der Praxis von Dr. Daniel zog sich wieder einmal in die Länge, aber das war ja nichts Außergewöhnliches. Sowohl Dr. Daniel als auch seine Sprechstundenhilfe und seine Empfangsdame waren an Überstunden gewöhnt. Trotzdem atmete der Arzt an diesem Abend auf, als er gegen acht Uhr endlich die letzte Patientin verabschieden konnte.
Dr. Daniel warf einen Blick ins Labor, wo seine Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau noch immer beschäftigt war.
»Gehen Sie nach Hause, Fräulein Sarina«, bat er. »Der Tag war heute lang genug.«
»Ich wollte eigentlich noch…« begann Sarina, doch Dr. Daniel fiel ihr ins Wort.
»Wenn Ihnen Ihr Chef sagt, daß Sie die restliche Arbeit morgen erledigen können, dürfen Sie das auch ruhig tun«, meinte er lächelnd, dann wandte er sich der jungen Gabi Meindl zu, die jetzt ihren Computer ausschaltete und die Ansage auf dem Anrufbeantworter überprüfte.
»Fräulein Meindl, seien Sie doch bitte noch so lieb, und rufen Sie kurz bei meiner Frau oben an«, bat Dr. Daniel. »Sagen Sie ihr, daß ich zur WaldseeKlinik muß und voraussichtlich erst in einer Stunde zu Hause sein werde.«
Mißbilligend schüttelte Gabi den Kopf. »Sie sollten jetzt aber auch Feierabend machen, Herr Doktor. Wie Sie zu Sarina sagten – der Tag war lang genug.«
Die junge Sprechstundenhilfe nickte zustimmend zu den Worten ihrer Kollegin.
»Gabi hat ganz recht«, bekräftigte sie nun.
Die Besorgnis seiner beiden Damen rührte Dr. Daniel, aber dennoch ließ er sich von seinem gefaßten Entschluß nicht abbringen.
»Ich verspreche, daß ich mich in der Klinik nicht lange aufhalten werde«, versicherte er schmunzelnd.
Gabi seufzte abgrundtief.
»Das glauben Sie ja selber nicht«, entfuhr es ihr.
Dr. Daniel mußte lachen. »Sie kennen mich leider viel zu gut.« Er sah auf die Uhr. »Jetzt muß ich aber wirklich los.«
»Ich sage Ihrer Frau Bescheid«, versprach Gabi, »und anschließend sperren wir die Praxis ab.«
Dr. Daniel bedankte sich, verabschiedete sich von seinen beiden Damen und eilte aus der Praxis. Kurz darauf betrat er die WaldseeKlinik und ging sofort zur Intensivstation.
»Es tut mir leid, daß ich so spät komme«, entschuldigte er sich bei Hannelore, überprüfte mit geschultem Blick ihre Werte, die von den Monitoren angezeigt wurden, und nahm eine behutsame Untersuchung vor, dann lächelte er sie an. »Ich glaube, Sie waren jetzt lange genug auf Intensiv. Gleich morgen früh werde ich veranlassen, daß Sie auf die normale Station kommen.« Er schwieg kurz. »Ich glaube, Ihr Mann würde Sie gern in eine andere Klinik verlegen lassen.«
»Ich möchte aber hierbleiben«, entgegnete Hannelore entschieden. »Sie haben mir schließlich das Leben gerettet, also wäre es in höchstem Maße undankbar von mir, jetzt einfach zu gehen. Im übrigen fühle ich mich hier sehr gut versorgt.«
Dr. Daniel lächelte. »Das höre ich natürlich gern. Also, Frau Jung, gleich morgen früh bekommen Sie ein hübsches Zimmer mit Blick auf den Park.«
Auch Hannelore lächelte. »Danke, Herr Doktor – und zwar für alles.«
*
Nach dem Gespräch mit Hannelore suchte Dr. Daniel die Nachtschwester Irmgard Heider auf und informierte sie über die geplante Verlegung der Patientin auf die normale Station.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor, ich werde morgen früh gleich veranlassen, daß Frau Jung auf die Gynäkologie kommt«, versicherte Irmgard und machte sich gleich eine Notiz für die morgige Dienstübergabe.
Dr. Daniel wußte, daß er sich auf die Nachtschwester verlassen konnte. Auf die ihm eigene, herzliche Art verabschiedete er sich von Irmgard, wünschte ihr eine ruhige Nachtschicht und wollte dann die Klinik verlassen, doch als er die Eingangshalle durchquerte, entdeckte er eine Frau, die zusammengesunken auf einer der Kunststoffbänke saß.
Verwundert ging Dr. Daniel auf sie zu und erkannte erst beim Näherkommen, daß es sich bei dieser Frau um die Oberschwester Lena Kaufmann handelte.
»Frau Kaufmann, was ist denn los?« fragte er besorgt.
Langsam hob sie den Kopf, und Dr. Daniel erkannte mit Schrecken, wie sehr sie sich in den vergangenen Tagen verändert hatte. Ihre Unterlippe zitterte, und in den traurigen Augen, die von schlaflosen Nächten zeugten, standen Tränen.
»Herr Doktor«, brachte sie mit bebender Stimme hervor. »Ich glaube… ich glaube, jetzt brauche ich Ihre Hilfe doch.«
Fürsorglich legte Dr. Daniel einen Arm um ihre Schultern und begleitete sie zu seinem Auto.
»Kommen Sie, Frau Kaufmann, fahren wir zu mir nach Hause«, schlug er vor. »Da können wir uns ungestört unterhalten.«
Lena blickte in die herrschende Dunkelheit. »Es ist schon so spät. Ihre Frau wird auf Sie warten.«
»Sie kennen meine Frau und wissen, daß sie Verständnis haben wird«, entgegnete Dr. Daniel ruhig.
Lena nickte. »Ich bin heute allein zu Hause – jedenfalls bis zehn Uhr abends. Mein Mann hat Spätschicht…«
Dr. Daniel verstand. Offensichtlich wollte Lena ihm Einblick in ihr Privatleben geben. Dieses Angebot durfte er nicht ausschlagen.
»Gut, Frau Kaufmann, fahren wir zu Ihnen«, stimmte Dr. Daniel zu, dann griff er nach dem Hörer des Autotelefons. »Ich sage nur rasch meiner Frau Bescheid, damit sie sich keine Sorgen macht.«
Wie Dr. Daniel erwartet hatte, zeigte Manon tatsächlich Verständnis.
»Ich bin auch nicht allein«, beruhigte sie ihren Mann. »Jeff und Karina sind auf ein Gläschen Wein herübergekommen.«
Das schmerzte Dr. Daniel nun ein wenig. Seit seine Tochter zu ihrem Verlobten gezogen war, sah er sie nur noch selten, obwohl