»Sie werden bestimmt noch da sein, wenn du kommst«, versicherte Manon.
»Danke, Liebes«, erwiderte Dr. Daniel mit einem zärtlichen Lächeln, dann verabschiedete er sich und legte auf.
»Ich halte Sie von Ihrem verdienten Feierabend ab«, stellte Lena leise fest.
Spontan legte Dr. Daniel eine Hand auf ihren Arm.
»Nein, Frau Kaufmann, ich bin doch froh, daß Sie sich mir anvertrauen«, entgegnete er.
Wenig später hielt er vor dem schmucken Reihenhaus an, das die Kaufmanns bewohnten. Üppige Blumenrabatten zierten den gepflasterten Weg, der zur Haustür führte, und obwohl es jetzt dunkel war und die Straßenlaternen nur ein schwaches Licht gaben, konnte sich Dr. Daniel vorstellen, wie schön diese Blumen bei Tageslicht aussehen mußten.
Hinter Lena betrat er das Reihenhaus und war nicht sonderlich überrascht, als er die geschmackvolle Einrichtung sah. Von der Diele führte ein ganz mit Zimmerefeu bewachsener Durchgang in das gemütliche Wohnzimmer. Handgeknüpfte Läufer gaben dem Raum eine warme, heimelige Atmosphäre. Die Blumen an dem großen Fenster zeugten von einer glücklichen Gärtnerhand.
Dann fiel Dr. Daniels Blick auf ein gerahmtes Familienfoto, das zwischen nostalgischen SchwarzweißAufnahmen an der Wand hing. Lena folgte seinem Blick.
»Das ist ein Bild aus glücklichen Tagen«, erklärte sie leise. »Damals war unsere Welt noch in Ordnung.« Sie trat neben Dr. Daniel und betrachtete wehmütig das Foto, das sie, ihren Mann Horst und die beiden Mädchen Hannelore und Uschi zeigte, die damals zehn und zwölf Jahre alt gewesen sein mochten. Dazwischen saß ein großer, wuscheliger Hund, dessen offenes Maul mit der heraushängenden Zunge den Anschein gab, als würde er lachen.
»Was ist denn das für ein fröhlicher Zeitgenosse?« wollte Dr. Daniel dann auch schon wissen.
Ein Lächeln erhellte Lenas Gesicht für einige Augenblicke. »Das war Major«, antwortete sie. »Horst hat ihn als Welpen mit in die Ehe gebracht. Er trug seinen Namen zu Recht. Wir standen alle unter seinem Regiment.« Ihr Gesicht wurde wieder traurig. »Als er starb, haben wir wochenlang geweint, und ohne daß wir je darüber gesprochen hätten, waren wir uns einig, daß Major keinen Nachfolger haben sollte.«
Dr. Daniel nickte. »Das kann ich gut verstehen. Man kann ein Tier, das ein langes Stück Weg mit einem gegangen ist, nicht einfach durch ein neues ersetzen.«
Noch einmal betrachtete Lena das Foto voller Wehmut, dann drehte sie sich um. Ihre Bewegung hatte etwas Endgültiges an sich – so, als wolle sie nie wieder an die Vergangenheit erinnert werden.
»Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie doch Platz«, bot sie an. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Wein, Bier oder vielleicht einen Kaffee?«
Mit einer Hand fuhr sich Dr. Daniel durch das blonde Haar. Die Aussicht auf ein kühles Bier war nach dem langen, anstrengenden Tag sehr verlockend, doch der Arzt gab dem Drang nicht nach.
»Angesichts der Tatsache, daß ich mit dem Auto hier bin, wäre wohl ein Kaffee das Beste«, meinte er.
»Fühlen Sie sich in der Zwischenzeit ganz wie zu Hause, Herr Doktor«, entgegnete Lena. »Ich werde mich beeilen.«
Es dauerte auch wirklich nicht lange, bis sie mit einem Tablett zurückkehrte, Tassen und Teller auf den blankpolierten Tisch mit der Marmorplatte stellte und schließlich eine Kanne Kaffee und einen Teller mit Gebäck holte.
»Ich nehme an, es geht um die unerfreuliche Situation zwischen Ihnen und Ihrer Stieftochter«, eröffnete Dr. Daniel das Gespräch, weil Lena beharrlich schwieg.
Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Nein, Herr Doktor.« Mit einer Hand bedeckte sie ihre Augen und versuchte vergeblich, ein heftiges Aufschluchzen zu unterdrücken. Erst nach einigen Minuten konnte sie fortfahren: »Verstehen Sie mich nicht falsch. Das gestörte Verhältnis zu Hanni macht mir schwer zu schaffen, doch jetzt… jetzt ist unsere ganze Zukunft in Gefahr. Horst… mein Mann…« Sie preßte eine Hand vor den Mund. »Er hat kein Wort darüber verloren, aber… ich habe es gesehen. Herr Doktor, er hat… er hat Blut im Urin und ich kenne ihn… er geniert sich viel zu sehr, um mit solchen Beschwerden zum Arzt zu gehen, noch dazu… Ihre Frau ist hier in Steinhausen die einzige Allgemeinmedizinerin. Wenn Horst zu ihr sagen müßte…« Sie schluchzte auf. »Ich habe Angst um ihn. Seit Hanni mir so feindselig gegenübersteht, ist unsere ganze Familiensituation schwierig geworden, aber wenn ich nun auch noch den Menschen verliere, der mir auf dieser Welt neben meinen Töchtern das meiste bedeutet…« Sie konnte den Satz nicht beenden.
Dr. Daniel ahnte, welche Art Hilfe Lena erwartete.
»Sie wollen, daß ich mit Ihrem Mann spreche, nicht wahr?« meinte er und fügte hinzu: »Glauben Sie nicht, daß es für Ihren Mann ebenso unangenehm sein könnte, von einem Gynäkologen auf sein Problem angesprochen zu werden?«
Lena vergrub das Gesicht in den Händen. »Was müssen Sie nur von mir denken?«
Behutsam legte Dr. Daniel eine Hand auf ihre Schulter. »Frau Kaufmann, ich verstehe Ihre Angst. Sie wissen, unter welch tragischen Umständen ich meine erste Frau verloren habe, ich kann also sehr gut nachfühlen, was in Ihnen vorgeht.« Er überlegte kurz. »Wann kommt Ihr Mann heute nach Hause?«
Lena warf einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde.«
Dr. Daniel überlegte einen Moment. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir gemeinsam mit ihm sprechen würden. Dabei sollten wir aber nicht auf sein persönliches Problem eingehen, sondern das Gespräch über einen erfundenen Vergleichsfall führen.«
Lena verstand, was Dr. Daniel meinte. »Ja, Sie haben recht. Damit würden wir möglicherweise mehr erreichen.«
»Darüber hinaus hätte Ihr Mann nicht das Gefühl, bloßgestellt zu werden.« Dr. Daniel schwieg kurz. »Wenn er sich vor meiner Frau wirklich genieren sollte, dann könnte er zur Untersuchung ja auch in die WaldseeKlinik kommen. Dr. Scheibler würde die nötigen Tests jederzeit vornehmen.«
»Ja, ich weiß«, flüsterte Lena. Dr. Daniel hörte die Angst aus ihrer Stimme heraus.
Tröstend griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Frau Kaufmann, Sie sind Krankenschwester, daher wissen Sie, daß Blut im Urin ein ernstes Zeichen ist«, meinte er. »Sie wissen aber auch, daß es keineswegs hoffnungslos sein muß.«
Lena nickte nur, dann blickte sie zur Tür. Fast im selben Moment wurde der Schlüssel im Schloß gedreht und ein großer, schlanker Mann trat in den Flur. Als er das Licht einschaltete, konnte Dr. Daniel ihn von seinem Platz aus sehr gut sehen. Er schätzte ihn auf Mitte Fünfzig, sein früher dunkles Haar war von zahlreichen Silberfäden durchzogen, die Schläfen hatten sich schon völlig grau gefärbt. Trotzdem war er ein äußerst gut aussehender Mann mit schmalem Gesicht und wachen grauen Augen, die von sehr viel Herzenswärme zeugten.
Mit einem zärtlichen Lächeln stand Lena auf, ging ihm entgegen und begrüßte ihn sehr liebevoll.
»Wir haben Besuch, Horst«, erklärte sie dann. »Das ist Dr. Daniel.«
»Herr Dr. Daniel, wie schön, daß ich Sie endlich kennenlernen darf«, meinte Horst Kaufmann, und sein Lächeln zeugte davon, daß seine Worte ehrlich gemeint waren. »Wissen Sie, meine Frau hat nie über ihren Beruf gesprochen und auch über Sie nur sehr wenig erzählt, aber jedesmal, wenn sie Ihren Namen aussprach, schwang darin so viel Hochachtung mit, daß ich mir vorstellen konnte, was für ein außergewöhnlicher Mensch Sie sein müssen.«
»Na, jetzt machen Sie mich ja richtig verlegen, Herr Kaufmann«, entgegnete Dr. Daniel und lächelte ebenfalls. »Bei mir war es ähnlich. Mir gegenüber hat sich ihre Frau, was ihr Privatleben betrifft, in absolutes Schweigen gehüllt. Ehrlich gesagt, habe ich erst vor ein paar Tagen erfahren,