Am 9. März 1870 verfasste Bismarck einen Bericht an seinen König, der diesem die Vorteile eines Hohenzollern auf dem spanischen Thron darlegte. Sechs Tage später erläuterte er diese nochmals persönlich vor dem König, dem Prinzen, geladenen Sigmaringern und Moltke. Jedoch gelang es weder jetzt noch in den folgenden Wochen, den König davon zu überzeugen, seine Zusage zu geben. Und ohne das Einverständnis des Königs konnte Leopold den Thron nicht besteigen. Deswegen wurde am 20. April 1870 die Ablehnung des Angebotes an die spanische Regierung übermittelt. Damit konnte Frankreich durchaus zufrieden sein und die gefürchtete Einkreisung war vom Tisch. Doch nicht lange!
Im Mai wurde der persönliche Mitarbeiter und Freund Bismarcks, Lothar Bucher (1817–1892), aktiv, indem er den spanischen Ministerpräsidenten bat, ein erneutes Angebot abzugeben. Der Vater Leopolds, Fürst Karl Anton (1811–1885), war zwar wie sein Sohn dem spanischen Thron gegenüber abgeneigt, aber die Aussicht, der eigenen Dynastie eine weitere Krone zuzuführen, war sehr verlockend (Dittrich, Bismarck, S. 32). Ende Mai erklärten beide, wenn es im preußischen Staatsinteresse sei, würden sie die Krone Spaniens annehmen. Inwieweit Bismarck in diese Gedankenspiele im Hause Sigmaringen involviert war, ist ungewiss. Jedenfalls nahm er diese neuerliche Wendung dankbar an und instruierte Bucher, der sich in Madrid befand (Gall, 1980, S. 428). Nur von Spanien konnte ein abermaliges, das nunmehr dritte Angebot kommen, da nach der Ablehnung vom 20. April keine offizielle Wiederaufnahme der Verhandlungen von Preußen ausgehen konnte. König Wilhelm I. wurde von Bismarck die Zusage abgerungen, bei einer abermaligen Anfrage zuzustimmen (Bremm, 2019, S. 38). Bismarck zog sich daraufhin aus den Verhandlungen zurück, und alle spanischen Anfragen wurden nach Sigmaringen weitergeleitet. In Berlin harrte man der Dinge, die da aus Paris kommen sollten.
Auf der persönlichen Ebene war ein spanischer König Leopold für Napoleon III. gar nicht schlimm. Man kannte sich von gemeinsamen Jagdausflügen aus Jugendzeiten und Leopold war ein freundlicher und besonnener Mann, der in einem heruntergewirtschafteten und von sozialen Spannungen erschütterten Spanien ganz andere Sorgen haben würde, als Frankreich zu schaden (Kleinmann, S. 147). Leopold würde also hart und bieder arbeiten müssen auf seinem Thron, fernab von Ambitionen nach militärischer Ehre oder neuen europäischen Mächtekonstellationen. Napoleon III. soll den jungen Mann sogar bemitleidet und in Bezug auf Frankreich intern gesagt haben, dass »ein Hohenzoller auf dem spanischen Thron seine ›Rache für Sadowa‹« sei (zitiert nach: Willms, S. 247). Für den Kaiser selbst mochte dies persönlich alles halb so schlimm sein, doch er musste Frankreich verkörpern, und das Volk sah den feinen Unterschied nicht zwischen einem katholischen Hohenzollern aus dem Süden und einem protestantischen aus dem Norden, zwei Linien, die seit vielen Jahrhunderten ihre eigenen Wege gingen.
Napoleon III. hatte sich erst durch ein Plebiszit Anfang Mai seine im Schwinden begriffene Macht als Kaiser erneut gesichert (Bremm, 2019, S. 40). Derart vom Volk bestätigt, traute sich die neue Regierung unter Ministerpräsident Émile Ollivier (1825–1913) eine Kraftprobe mit den Preußen durchaus zu. Man sah insbesondere die Möglichkeit, einen ähnlich demütigenden Coup zu landen, wie er den Preußen mit der »Luxemburg-Frage« geglückt war. Die Hardliner um die Kaiserin und den am 15. Mai ernannten neuen Außenminister, Herzog Antoine de Gramont (1819–1880), drängten zu entschlossenem Handeln.
Es ist bis heute Gegenstand intensiver Debatten, inwieweit Bismarck mit einem Krieg im Frühjahr rechnete, oder ob er eine weitere Demütigung Frankreichs forcieren wollte. Zumindest mit der Ernennung Gramonts musste Bismarck mit einem Krieg rechnen (Dittrich, Ursachen, S. 76). In Berlin sah man zunächst keinen echten Kriegsgrund in dieser Affäre. Bismarcks Absicht könnte vielmehr gewesen sein, Spanien als engen Partner Frankreichs abzulösen und näher an Preußen zu binden. Dies hätte Frankreich dazu gebracht, seine Militärpräsenz Richtung Rhein auszudünnen, um Truppen an die Pyrenäen zu verlegen. Frankreich rechnete mit 200 000 Mann, die in diesem Fall am Rhein fehlen würden (Zahlen nach: Hawig, S. 325). 1866 war Bismarck ähnlich verfahren, als er den Bruder Leopolds, Karl (1839–1914), zum Fürsten von Rumänien ausrufen ließ, womit man ein Druckmittel gegen Österreich erhalten hatte. Doch 1870 gelang ein solcher Schachzug gegen Frankreich nicht (Baumgart, S. 397).
Vom 3. bis zum 5. Juli bemühte sich die französische Regierung, Hintergründe und Absichten der erneuten Hohenzollernkandidatur in Erfahrung zu bringen, und erhielt aus Preußen nur die Mitteilung, dass man damit nichts zu tun hätte (Ohnezeit, S. 58). Paris wusste natürlich, dass dies eine Unwahrheit war. Der neue Außenminister Gramont gelangte nun zu der Überzeugung, dass nur eine harte Haltung gegenüber Preußen den französischen Interessen entsprechen würde (Kolb, Kriegsausbruch, S. 85), die unzweifelhaft durch die Thronkandidatur berührt seien und deswegen verteidigt werden müssten. Doch diese Interessen waren nicht durch irgendein Völkerrecht oder gar moralisch begründet – in der französischen Öffentlichkeit setzte man sie aber als selbstverständlich voraus.
Am 6. Juli kam es zu einer Ministerratssitzung in Paris, die von völlig falschen Annahmen ausging. Es wurde angenommen, dass die französische Armee kriegsbereit und der preußischen überlegen sei. Ferner wertete man den Briefwechsel mit Italien und Österreich des Jahres 1869, den die Monarchen über ein eventuelles Bündnis geführt hatten, bereits als Abschluss eines solchen (Bremm, 2019, S. 40). Schließlich kam noch die angenommene Neutralität Süddeutschlands in einem Krieg hinzu, sodass Gramont am folgenden Tag vor der Gesetzgebenden Körperschaft in Paris eine aggressive Erklärung zur spanischen Thronkandidatur Leopolds abgab (Howard, S. 51). Obwohl die Rede dem heimischen Publikum galt, horchte dennoch die europäische Politik aufgrund der unverhohlenen Kriegsdrohung auf. Es war bis dahin unüblich, einem anderen souveränen Staat öffentlich zu drohen, sodass dies bei den anderen Mächten einen negativen Eindruck hinterließ (Ohnezeit, S. 60).
Mit Gramonts Rede vor dem Corps législatif hatte sich Frankreich unnötig unter Druck gesetzt. Bisher gab weder Spanien noch Preußen, das sich offiziell aus allem heraushielt, Anlass für eine solch martialische Rede. Napoleon III. musste nun, wollte er seinen neuerlichen Kredit beim eigenen Volk nicht verspielen, den Worten Taten folgen lassen. Die Beschränkung der Handlungsfähigkeit war ein großer politischer Fehler, den die Verantwortlichen so noch nicht einsahen, denn nun konnte nur noch eine öffentliche Verzichtserklärung Preußens auf den spanischen Thron – das damit ja faktisch gar nichts zu tun hatte – das Ansehen Frankreichs bewahren; dies jedoch auf Kosten Preußens, das damit gedemütigt würde (Dittrich, Bismarck, S. 94). Falls nicht, gab es nur eine Option, wie Gramont in einem Brief an den französischen Botschafter in St. Petersburg mitteilte: »Wenn Preußen fest bleibt, so bedeutet das den Krieg!« (zitiert nach: Ohnezeit, S. 60).
In Preußen selbst war man dann doch ob der Aggressivität und Unbeherrschtheit einigermaßen überrascht. Dass eine konservativ-monarchisch geprägte Zeitung wie die Neue Preußische Zeitung die Rede Gramonts