Trauma. Lutz Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lutz Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170336476
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ein bis in die Identität hineinreichender Zustand des Kontrollverlusts, den Ehlers, Maercker und Boos (2000) als mentale Niederlage bezeichnen, erlebt wird. Die Ebene der Bedeutung des Ereignisses nimmt damit einen wichtigen Platz in der kognitiven Theorie ein. Dieser Bedeutungsbegriff bezieht sich dabei insbesondere auf katastrophisierende Interpretationen wie die Überzeugung, das traumatische Ereignis verdient zu haben, oder die Bewertung von Symptomen als Beweis, verrückt zu werden. Auch die spezifische Natur traumatischer Erinnerungsspuren wird vom kognitiven Modell berücksichtigt, wobei die Rolle von Verarbeitungsmechanismen betont wird, die in mangelnder Integration in den autobiografischen Kontext resultieren.

      Zusammenfassend und vereinfachend lässt sich festhalten, dass die von wesentlichen VertreterInnen der kognitiven Verhaltenstherapie der PTBS verwendeten Störungsmodelle zwei Aspekte betonen. Einerseits eine Abnormalität in der Enkodierung der traumatischen Gedächtnisinformation. Diese zeichnet sich insbesondere durch fehlende autobiografische Kontextualisierung und leichte Aktivierbarkeit durch traumatische Hinweisreize aus. Zweitens kommen prä-, peri- und posttraumatische Bedeutungs-, Überzeugungs- und Bewertungsprozesse in den Fokus. Diese gruppieren sich um Themenkomplexe wie die von Anderen und der Welt ausgehenden Gefahr oder negative Wahrnehmung des Selbst oder der eigenen Zukunft.

      2.3.1 Die psychoanalytische Begriffsinflation

      Die Beiträge der Psychoanalyse zum Traumakonzept erfolgten im Wesentlichen in den allgemein anerkannten Kategorien traumatischer Ereignisse – sexuelle und gewalttätige Übergriffe, kriegerische Ereignisse, Naturkatastrophen, Genozid und Konzentrationslagerhaft. Doch hat sich die Psychoanalyse bis zum heutigen Tage nicht von solchen kategorialen Grenzen davon abhalten lassen, eine ganz eigene Kreativität in die Verwendung des Traumabegriffs einzubringen. Diese sei im Folgenden angedeutet. Chronologisch an den Beginn dieser Übersicht gehört natürlich Otto Ranks Trauma der Geburt (Rank, 1924), an welches AutorInnen wie Heimann (1966) oder Crepaldi (2013) im Sinne der Vertreibung aus dem symbiotischen intrauterinen Paradies erinnern. Hieran wären die aus der psychoanalytischen Entwicklungs- und Triebtheorie hergeleiteten Traumata anzuschließen. Hier sind also das orale, anale und ödipale sowie das Kastrationstrauma (Stern, 1972, 1974) ebenso zu nennen wie Dahls (2018) Erinnerung an das Urszenentrauma. Als Beispiel dafür, was sich hinter einem dieser plakativen Begriffen – dem oralen Trauma – verbirgt, sei Sterns (1974, S. 498) Definition einer physiologisch-biotraumatischen Situation angeführt: »Ich habe den Zustand des vorübergehenden Versagens des homöostatischen Ausgleichs in dieser Phase als Biotrauma definiert«. Großer Beliebtheit erfreut sich der Terminus des narzisstischen Traumas. Der realitätsbedingte Verlust der kindlichen Allmachtsphantasien (Grunberger, 1958) oder der Verlust ungeteilter elterlicher Zuwendung im Geschwistertrauma (Mitchell, 2017) sind hier ebenso anzuführen wie »Kränkungs-, Versagens- und Verunsicherungserlebnisse« (Lang, 2017, S. 688). Schöne Beispiele für letztere finden sich bei Eissler (1966; »Die Enttäuschung, die er durch die Untreue des geliebten Mädchens erlitt, war für ihn traumatisch.« [S. 863]) oder Grunert (1977; »abruptes Abstillen, längeres Alleingelassenwerden, Spott der Geschwister und Erwachsenen etc.« [S. 1070]). Weimer, Nilsson-Schönnesson und Ulrich (1989) sprechen vom Trauma der HIV-Infektion, Pelzl (2013) vom traumatischen Verlust von Sprache und Heimat bei Migranten, Kennedy (2016) von der traumatischen Trennung der Eltern während der Adoleszenz. Während Balint (1966) mit Sandor Ferenczi die Gefahr einer Retraumatisierung durch psychoanalytische Abstinenz erkennt, räumt Dettbarn (2013, S. 657) ein, dass technische Schwierigkeiten bei EDV-Anwendungen »mit den dazugehörigen Gefühlen von Ohnmacht, Hilf- und Schutzlosigkeit« ein Trauma darstellen können. Unter Durchbrechung der Einschränkung des vorliegenden Kapitels auf den Bereich der Individualtrauma seien an dieser Stelle noch einige Stilblüten angeführt, welche kollektive Traumatisierungen der psychoanalytischen Bewegung beobachten. Young-Bruehl und Schwartz (2011) sprechen vom Trauma von Freuds Tod, Janus (2013, S. 63) erinnert an die »Abspaltung von Jung, die Balint einmal als das größte Trauma in der Geschichte der Psychoanalyse bezeichnet hat«, und Weimer (2017, S. 1143) spricht von einem »deutschen psychoanalytischen Trauma der Kollaboration mit den Nazis«. In diese Richtung – allerdings mit Bezug auf die Identität der deutschen Allgemeinbevölkerung – verwendet Richter (1986) den Begriff des Hitler-Traumas. Um den mit Erwähnung des Geburtstraumas begonnenen Lebenszyklus abzurunden, sei abschließend Fischers (1986, S. 548) Formulierung vom »Trauma, zum Tode geboren zu sein«, erwähnt. So können wir nur Danckwardt (2010, S. 411) zustimmen, wenn er in perfekter Übereinstimmung mit vielen anderen AutorInnen von einer »gegenwärtig herrschenden Inflation der Traumadiskussion« spricht.

      Die Gefahren einer solch inflationären Begriffsverwendung innerhalb der Psychoanalyse sind natürlich seit langem bekannt: »Es wird dem einzelnen Autor schwer, sich auf diesem Gebiet zurechtzufinden, und er steht in Gefahr, heute alles Trauma zu nennen, was in der einen oder anderen Weise einen pathogenen Einfluß auf die psychische Persönlichkeit ausübt«, stellte bereits Anna Freud (1967, S. 14) fest. Wenn also an dieser Stelle zu fordern ist, im Zuge einer Spezifizierung einer Traumadefinition zahlreichen belastenden Lebensereignissen und -bedingungen das Prädikat des Traumatischen vorenthalten, reduziert das in keiner Weiser die ihnen zustehende Relevanz für die Entwicklung von Persönlichkeit oder Psychopathologie. Ganz im Gegenteil könnte es eher darum gehen, die Bedeutung eines entkontextualisierten Traumabegriffs einzuschränken. So schreiben Fonagy und Bateman (2008, S. 14, eigene Übersetzung) in Bezug auf die Interaktion traumatischer Ereignisse und familiärer Lebensbedingungen von Kindern in der Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS): »Wir nehmen an, dass die Wirkung des Traumas am besten als Teil eines generelleren Versagens der Berücksichtigung der Kindesperspektive durch Vernachlässigung, Zurückweisung, extreme Kontrolle, nichtunterstützende Beziehungsgestaltung, Inkohärenz und Verwirrung zu verstehen ist«. Die Erfahrung, nicht wahrgenommen, respektiert oder geliebt zu werden, mag dann einem potenziell traumatischen Ereignis erst zu seiner Wirkung verhelfen.

      Wie sich bereits aus den Abschnitt 1.1 einleitenden Zitaten angedeutet hat, lag der pathologische Kern des Traumas für Freud und Breuer (1895/1987) in einer Erinnerung, die sich der Abreaktion assoziierter Emotionen verschloss und deshalb nicht weiterverarbeitet werden konnte. Hierfür erkannten sie zwei mögliche Ursachen. Entweder entzog sich die Erinnerung mittels Verdrängung dem Bewusstsein, wohinter Eigenschaften des Ereignisses, soziale Umstände oder persönliche Motive stehen konnten. Oder das Ereignis erfolgte in einem hypnoid-dissoziativen Zustand und bleibt deshalb vom normalen Bewusstseinszustand abgespalten. In der Folge dieser Bedingungen kann die Erinnerungsspur nicht assoziativ verarbeitet werden. In Jenseits des Lustprinzips formuliert Freud (1920) sein Traumakonzept in psychoökonomischen Termini. Die mit traumatischen Ereignissen assoziierten großen Erregungsbeträge durchbrechen den Reizschutz des psychischen Apparates und zwingen ihm eine im schlimmsten Fall endlose Reihe von Wiederholungen im Versuch, sich der Energie durch Abreaktion oder Bindung zu erledigen, auf. Dieser Zustand ist eng mit dem Erleben von Hilflosigkeit und Angst verbunden. Friedrichs (1950) lehnt eine solch »physikalische Betrachtungsweise« bei »Annahme eines eindeutigen Kausalverhältnisses […] unter dem Aspekt des Energiehaushaltes ohne Rücksicht auf inhaltliche Bestimmungen und Sinnbezüge« (S. 819) ab. Für ihn gehört der »traumatische Charakter eines Erlebnisses […] der subjektiven Seite des Erlebens an; er wird nicht in seinem objektiven, ereignishaften Anteil begründet« (S. 822). Seither haben unzählige AutorInnen versucht, die Natur der traumatischen Erfahrung zu erfassen. An erster Stelle ist hier die seminale Darstellung der Entwicklung des psychoanalytischen Traumakonzepts von Bohleber (2000) anzuführen. Im Folgenden sollen zentrale Schnittmengen unterschiedlicher Beiträge herausgearbeitet werden.