1.2 Vom Grauen lernen: Krieg und Völkermord als Schulzimmer der Psychotraumatologie
Auch wenn sich diese Kostprobe aus dem Reichtum der ersten psychotraumatologischen Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts einseitig auf ein Autorenpaar und zwei kurze Textstellen beschränkt, erschiene die Hypothese plausibel, dass die psychiatrischen Ärzte der ab 1914 kriegsführenden Nationen von substantiellen Vorarbeiten profitiert haben dürften. Am Beispiel der Kaufmannschen Überrumpelungs-Methode erfahren wir jedoch, dass das deutsche Militär Methoden, welche wir dem Bereich der Folter zuordnen müssen, für effektiver hielt. Diese wird von Raether (1917, S. 490) wie folgt beschrieben:
»1. Suggestive Vorbereitung, die sich über mehrere Tage erstreckt und den Patienten voll und ganz darauf einstellt, dass die bevorstehende elektrische Sitzung zwar Schmerzen, aber unbedingt die Heilung bringt. 2. Die eigentliche Sitzung, in der sich Kaufmann sehr kräftiger elektrischer Ströme bedient […]. Grundbedingung: nur eine Sitzung bis zur völligen Heilung des Falls, auch wenn diese mehrere Stunden dauern sollte. 3. Energische Übungen in dieser Sitzung, die […] gegen die zu beseitigende funktionelle Störung gerichtet sind, wie […] Gang- und Marschübungen bei Gangstörungen usw. Diese Übungen führt Kaufmann nach militärischen Kommandos aus unter Betonung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses«.
Ethische Vorbehalte von Kollegen konnte Kaufmann durch Verwendung von lediglich »mässig starkem Strom« und Verkürzung der Sitzungsdauer auf »selten länger als ¼ Stunde« auflösen (S. 491). Der Blick wendet sich entsetzt ab und sei auf das Geschehen auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im September 1918 in Budapest gelenkt. Hier tauschen sich frühe PsychoanalytikerInnen wie z. B. Ferenczi, Abraham und Simmel über ihre Erfahrungen bei der Behandlung traumatisierter Soldaten aus. Simmel (1919, S. 42) distanziert sich von »der Verwerflichkeit aller Gewalts- und Beeinträchtigungsmethoden«. In Anerkennung der den Umständen geschuldeten Notwendigkeit einer Behandlungsbeschleunigung, deren Grenzen er kritisch diskutiert, beschreibt er den Einsatz einer »Kombination von analytisch-kathartischer Hypnose mit wachanalytischer Aussprache und Traumdeutung – letztere sowohl im Wachen wie in tiefer Hypnose ausgeübt« (S. 43).
»In der Hypnose erzählt oder rückerlebt der Soldat noch einmal all die Dinge, die er in jenen Zuständen nur unbewußt aufgenommen hat. Wir erfahren von qualvollen Schmerzen, die im Zustande der Verschüttung niemals zur bewußten Apperception gelangten. Wir sehen in solchen Hypnosen seine Angst, seinen Schrecken sich lösen, seine Wut sich aufbäumen, die im Moment der Erregung erstarrt blitzartig ins Unbewusste hinabgerissen wurden« (S. 48).
Abraham (1919, S. 36) beschreibt, wie das Zusammenbrechen einer »mit ihrem Narzißmus zusammenhängende[n] Illusion«, […], nämlich durch den Glauben an ihre Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit« zur Krankheitsentstehung beiträgt: »Die narzisstische Sicherheit weicht einem Gefühl der Ohnmacht, und die Neurose setzt ein«. Der Psychoanalytiker Mardi Horowitz (1976, S. 177, eigene Übersetzung) greift dies am Fallbeispiel eines Patienten mit narzisstischem Persönlichkeitsstil nach Verkehrsunfall auf: »Das Konzept der Möglichkeit, selber sterben zu können, ist stark inkongruent mit dem andauernden Konzept persönlicher Unverletzlichkeit und diese Diskrepanz löst Angst aus«. Janoff-Bulman (1992, S. 19, eigene Übersetzung) schreibt später in ihrem Buch Shattered Assumptions, welches den schönen Untertitel Towards a New Psychology of Trauma trägt: »Es gibt erhebliche Forschungsbelege, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen negative Ereignisse widerfahren könnten, unterschätzen, während sie die Wahrscheinlichkeit positiver Ereignisse überschätzen; sie scheinen auf der Basis einer »Illusion der Unverletzlichkeit« zu operieren« – freilich ohne ihre psychoanalytischen Vorgänger zu referenzieren. Die Rigidität solcher vorbestehenden Annahmen über sich selbst und die Welt gilt im Rahmen der kognitiven Traumatheorien heute als wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Traumafolgestörungen (Foa, Hembree & Rothbaum, 2007). Auch zur bereits damals hochaktuellen, unter dem Schlagwort »Rentenneurose« geführten Kontroverse (vgl. Lehmacher, 2013) wurden in Budapest tendenziöse Vorurteile geradegerückt. Diese Kontroverse ging und geht der Frage nach, ob PatientenInnen mit Traumafolgestörungen als zivile SozialversicherungsschmarotzerInnen bzw. desertierende VaterlandszersetzerInnen zu entlarven sind oder als schwer geschädigte Opfer anerkannt werden sollten. Simmel (1919, S. 56) spricht hier von »vielfach fälschlich angeschuldigten bewußten ›Begehrlichkeitsvorstellungen‹«. In Bezug auf Fälle der »echten Rentenneurose« (ebd.) erarbeitet er ein Verständnis des intrapsychischen Geschehens, welches solchen Fällen zugrundeliegen mag, anstelle sich ihrer Verurteilung anzuschließen. Zum heutigen Umgang mit Menschen, deren traumabedingte Arbeitsunfähigkeit in vielen Fällen eine ebenso existenz- wie identitätsbedrohende Schädigung darstellt, sei auf die aktuelle Situation in der Schweiz hingewiesen, wo wir den Missbrauch spektakulärer Einzelfälle von Versicherungsbetrug zur Kriminalisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen von Schutzbedürftigen beobachten müssen2. Die Fortschrittlichkeit all dieser vor 100 Jahren dargelegten Ausführungen vor ihrem historischen Kontext, sei es aus behandlungstechnischer, theoretischer oder ethischer Perspektive, ist ebenso offensichtlich wie ihre unveränderte Aktualität.
Im zweiten Weltkrieg nähert sich die Beschreibung der posttraumatischen Stresssymptome bereits weitgehend dem aus dem DSM-III bekannten Bild an. Zentrale Protagonisten sind dabei Psychoanalytiker wie Abram Kardiner mit seinem epochalen Werk The traumatic neuroses of war (1941), von dem van der Kolk (2007, S. 26) schreibt, dass er die PTBS für das verbleibende 20. Jahrhundert mehr als irgendjemand sonst definierte, oder Roy R. Grinker (Grinker & Spiegel, 1945). In den erneut oft unter großem Zeitdruck durchgeführten Behandlungen werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: »Manche fokussierten auf Narkose, manche auf körperliche Rehabilitation und Training, manche auf Abreaktion, und manche auf anhaltende Kontakte zwischen Patienten und Ärzten oder zwischen Patient und einer sorgfältig ausgesuchten Pflegekraft« (Bartheimer, Kubie, Menninger, Romano & Whitehorn, 1946, S. 493, eigene Übersetzung). Einerseits wird versucht, durch mehrtägige Gabe von Betäubungsmitteln (wie Amobarbital in Kombination mit Insulin) die Stresssymptome zu unterdrücken und auf Ruhe, Unterstützung und Resozialisierung zu setzten.
»Die Patienten wurden […] ermutigt, zu infantilen Handlungen und Einstellungen zu regredieren. Sie wurden gefüttert, wann immer sie dies zu wollen schienen, mit ihren Köpfen auf den Schultern der Krankenschwestern. Wenn Saugbewegungen auftraten wurde ihnen erlaubt, Milch aus einer Flasche zu trinken. […] Auf Wunsch wurden den Patienten Kinderlieder rezitiert oder gesungen« (ebd., S. 496, eigene Übersetzung).
Auf der anderen Seite stand die katharsisfördernde Belebung des Traumas, welche z. T. mithilfe von Hypnose oder unter dem Namen der Narkoanalyse in Kombination mit Betäubungsmitteln durchgeführt wurde. Diese ergänzenden Maßnahmen sollten die Belastung durch die Erinnerung reduzieren oder die Erinnerung an das traumatische Ereignis verbessern. Ihre eindrücklichen Beschreibungen ergänzen Bartheimer et al. (1946) um eine überaus sorgfältige Diskussion von Fragen wie Dosierung der unterschiedlichen Behandlungskomponenten oder Gegenübertragung auf Seiten der Behandelnden.
Nach Kriegsende ist in der Verweigerung der Anerkennung der Folgen der in den Konzentrationslagern erlittenen Extremtraumatisierungen bzw. ihrer Ursachen eine besonders beschämende Episode der jungen deutschen Bundesrepublik zu beobachten. Eine äußerst detaillierte Darstellung, wie diese gesellschaftlich-politische Misshandlung das im Zuge des Völkermords an der jüdischen und an anderen Bevölkerungsgruppen erlittene Leid der Überlebenden fortsetzte, findet sich bei Lehmacher (2013; s. auch Venzlaff et al., 2009). Der große Reichtum an psychoanalytisch orientierten Beiträgen auf dem langen Weg zur Anerkennung dieses Leids verbietet eine eingehende Darstellung an dieser Stelle (z. B. Bastiaans & van der Horst, 1957; de Wind, 1968; Eissler, 1963; Eitinger, 1972; Krystal, 1968)3. Dies gilt auch für die große Zahl der psychoanalytischen AutorInnen, welche seither versucht haben, einen Beitrag zum Verständnis der Wirkung solcher Extremereignisse (Bettelheim, 1943) zu leisten (z. B. Grubrich-Simitis, 1979).
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