Trauma. Lutz Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lutz Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170336476
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demnach als eklatanter Symbolisierungsmangel beschreiben. Traumabezogene Affekte und Kognitionen (bspw. Rachephantasien) können aus Angst vor Realisierung nicht ausgedrückt werden, da sie nicht ausreichend von der Realität unterschieden werden. Im Modus der Universalität wird erstmals deutlich, dass das Symbol auf einen Referenten verweist, diese Beziehung geht jedoch mit einer Übergeneralisierung einher und erlaubt noch keine differenzierende Spezifizierung des Bezeichneten. Hier kann man beispielsweise an Aspekte von Selbst- oder Objektrepräsentationen denken (z. B. wahrgenommenes, eigenes Versagen während des traumatischen Ereignisses, welches von posttraumatischen Schuldgefühlen begleitet wird), die undifferenziert verallgemeinert werden. Im Suspensionsmodus ist die Trennung von Symbol und Bezeichnetem vervollständigt, was symbolische Operationen erlaubt, die jedoch als von der Realität strikt abgetrennt erlebt werden. Hier könnten etwa unterschiedliche Perspektiven auf das Ereignis und die damit zusammenhängenden Aspekte von Selbst- und Objektrepräsentanzen erstmals erkundet werden. Im Modus der Signifikation können dann flexible Assoziationen zwischen getrennten und klar spezifizierten Symbolen und Objekten gebildet werden – Wiedererinnern bedeutet nun nicht mehr Wiedererleben. Chinen betont, dass das Level der Symbolisierungs bereichsspezifisch unterschiedlich ausfallen kann und gerade »untolerierbares Material nie angemessen symbolisiert ist« (S. 399, eigene Übersetzung).

      Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass mit der beschriebenen Beschädigung (

Kap. 2.3.5) der inneren Welt der Objekte ein Nachgeben der Stützpfeiler unseres innerpsychischen Raumes und der an diesen gebundenen Symbolisierungsfunktion impliziert wird. Wie ein Computer eine Datei, deren Format er nicht kennt, nicht bearbeiten kann, sooft man auch auf »Datei öffnen« klickt, gelingt keine Übersetzung in ein sprachliches oder sonstiges bedeutungsgebendes Repräsentationssystem. Damit prallen wir immer wieder auf die ursprüngliche traumatische Erfahrung an sich, ohne die Distanzierung, Bearbeitung und Integration erlaubende Symbolisierung.

      Vom Ereignis zum sozialen Prozess

      Grünberg und Markert (2016, S. 429) stellen fest: »In der Psychoanalyse wird Trauma nicht nur als traumatisches Ereignis bzw. Geschehen verstanden, sondern in seinem Prozess-, Verarbeitungs- und vor allem in seinem Bedeutungszusammenhang betrachtet. Seine Bedeutung als Trauma kann sich unter Umständen auch erst im Nachhinein manifestieren.« Wie kein zweiter hat Keilson (2005) zum Verständnis des traumatischen Geschehens als nicht abschließbarem Prozess beigetragen. Auf Grundlage seiner wissenschaftlich begleiteten Arbeit mit jüdischen Kriegsweisen in den Niederlanden, deren Eltern während der Shoa umgebracht worden waren, formuliert er das Konzept der sequentiellen Traumatisierung. Dabei unterscheidet er drei Phasen im traumatischen Prozess. Die erste Phase erkennt er in mit der deutschen Besetzung der Niederlande beginnender Verfolgung und Terror gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Als zweite Phase konzeptualisiert er die akute direkte Verfolgung mit Erlebnissen wie Deportation in ein Konzentrationslager oder Aufenthalt in einem Versteck. In der Nachkriegszeit, in welcher der Frage der Vormundschaftszuweisung eine zentrale Rolle zukam, erkannte Keilson die dritte Phase. Wie Keilson nachweist, üben nicht nur die furchtbaren Erfahrungen während der akuten Verfolgung einen Einfluss auf die weitere psychosoziale Entwicklung der überlebenden Kinder aus. Im Gegenteil: »Kinder mit einer günstigen zweiten, aber einer ungünstigen dritten Sequenz zeigen ca. 25 Jahre später ein ungünstigeres Entwicklungsbild als Kinder mit einer ungünstigeren zweiten, aber einer günstigen dritten traumatischen Sequenz« (Keilson, 2005, S. 430). Die Theorie der sequentiellen Traumatisierung wurde von Becker (2007) präzisiert und auch auf den Kontext von durch sozialpolitische Traumatisierung erzwungener Migration erweitert. Ganz im Sinne dieser Position fasst Varvin (2018, S. 206, eigene Hervorhebung) zusammen:

      »Posttraumatische Prozesse sind abhängig vom Grad der Persönlichkeitsorganisation, von vorausgegangenen traumatisierenden Erfahrungen, von den zum Zeitpunkt der erlebten Gräuel gegebenen Umständen und – besonders bedeutsam – von der Art und Weise, wie im Anschluss an das Geschehen auf das Opfer eingegangen wurde […]«.

      Exkurs: Zum Begriff des kollektiven Traumas

      Die Berücksichtigung sozialer Prozesse hat jedoch nicht nur hilfreichen theoretischen Entwicklungen den Weg geebnet. Wie auch das Konzept individueller Traumatisierungen erfreut sich dasjenige kollektiver Traumata großer Beliebtheit. »Über Attentate wie jene vom 11. September 2001 oder das Massaker in Norwegen kann man nicht schweigen. Jede demokratische Gesellschaft muss ein solch kollektives Trauma ausführlich und öffentlich verarbeiten«, schreibt die WOZ in ihrer 31. Ausgabe vom 04.08.2011. »Mit kollektivem Trauma […] meine ich einen Schlag gegen das grundlegende Gewebe des sozialen Lebens, welcher die Verbindungen der Menschen untereinander verletzt und die vorherrschende Empfindung von Gemeinschaft beeinträchtigt«, formuliert Erikson (1976, S. 154, zitiert nach Erikson 1991). Aber macht die Annahme eines traumatisierten Kollektivs, sofern nicht alle Angehörigen dieses Kollektivs traumatische Ereignisse erlebt haben, Sinn? Brunner (2010) listet in seinem kritischen Beitrag sich scheinbar anbietende Parallelen individueller und kollektiver Traumafolgen an. An den Bereich des traumatischen Wiedererlebens (

Kap. 3) erinnert der von Volkan (2000) beschriebene flashbackartige Zeitkollaps, bei welchem Vergangenheit und Gegenwart kollektiv-psychisch eins werden. Den PTBS-typischen Vermeidungssymptomen entspräche die mit dem Begriff der conspiracy of silence (Danieli, 1984) beschriebene Tabuisierung des Themas, welche sich häufig in den ersten Jahrzehnten nach Genoziden auf Täter- wie auf Opferseite beobachten lässt. Die psychophysiologische Übererregung im Rahmen der PTBS-Diagnose lässt sich in Gruppen beobachten, wenn die tabuisierten Themen dennoch angesprochen werden. Wie im Rahmen der Konzepte der auserwählten (Volkan, 2000) oder kulturellen (Alexander, 2004) Traumata analysiert wird, handelt es sich hierbei jedoch um sozialpsychologische Phänomene, für welche das Thema der Gruppenidentität von Relevanz ist. Alexander (2004) analysiert die kommunikativen Akte, über welche ein Traumanarrativ über den erfahrenen Schmerz entsteht, welches Teil des Kerns des kollektiven Identitätsgefühls wird. Volkan (2000) betont das offensichtliche Missbrauchspotenzial solcher sozialpsychologischen Mechanismen. Beide Autoren belegen, dass Gelingen oder Scheitern der Verankerung der Repräsentation eines Traumanarrativs in der Gruppenidentität unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen eines realen massenhaft erfahrenen Unglücks ausfallen können.

      Ein hilfreiches Konzept, welches die gesellschaftliche Dimension massenhafter traumatischer Erfahrungen wie eines Genozids abbildet, ist das des sozialen Traumas (Hamburger, 2018). Hier werden die Auswirkungen für die Verarbeitungsmöglichkeiten einer individuellen traumatischen Erfahrung beschrieben, wenn TäterInnen und Opfer soziale Gruppen repräsentieren und die Viktimisierung von übergeordneten sozialen Strukturen sanktioniert wird (Laub & Auerhahn, 1989). Hamburger (2017, S. 82, eigene Übersetzung) erkennt »die Auslöschung der kulturellen Umgebung als Resonanzkörper« als entscheidenden Mechanismus. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzt der bereits angeführte Ansatz des kontinuierlichen traumatischen Stresses (Straker et al., 1987). Hier fehlt es unter anderem an einem gesellschaftlich verankerten Referenzpunkt einer nicht-traumatischen Realität, welcher erlaubt, das Erlebte als ethisch zu verurteilende Abweichung von dieser einzuordnen.

      Solche Konzepte erlauben es, die Aspekte der individuellen traumatischen Erfahrung, der Bedeutung gesellschaftlicher Verhältnisse für ihre Verarbeitung, und Prozesse der Gruppenidentität voneinander zu trennen. Entsprechend ist Brunner (2010, S. 10) beizupflichten, wenn er schlussfolgert:

      »Ich glaube, dass wir dieser Problematik nur begegnen können, wenn wir uns vom Begriff des ›Kollektiven Traumas‹ verabschieden. Entweder wird ein solches ›kollektives Trauma‹ nämlich nur metaphorisch als Erschütterung der Kommunikationsstrukturen einer Gesellschaft oder als narzisstische Kränkung einer Großgruppe verstanden. Für ein solches Verständnis ist aber ein Rekurs auf die Traumatheorie selbst unnötig, sorgt eher für Verwirrung. Oder aber es werden damit wirklich die gesellschaftlichen Auswirkungen massenhafter Traumatisierungen