2.3.4 Die unmittelbare Reaktion
Die innere Situation im traumatischen Ereignis wird einerseits mit Erfahrungen »der Überwältigung und eines Überschusses an Gewalt, Angst und Erregung, die seelisch nicht zu binden sind« (Bohleber, 2000, S. 828) oder »Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe« (Fischer & Riedesser, 2009, S. 84, Hervorhebung im Original) beschrieben. Zahlreiche psychoanalytische AutorInnen erkennen in diesen Reaktionen eine Möglichkeit, traumatische von anderen pathogenen Erlebnissen abzugrenzen (Baranger, Baranger & Mom, 1988; Hurvich, 2015; Stern, 1972). Bohleber (2000) schlägt vor, zu ihrer erklärenden Beschreibung am psychoökonomischen Modell festzuhalten. Metapsychologisch werden diese Reaktionen mit einer je nach AutorIn bis zum vollständigen Zusammenbruch reichenden Beeinträchtigung von Abwehrprozessen und weiteren Ich-Funktionen (z. B. Realitätsprüfung oder Handlungskontrolle) in Verbindung gebracht (Freud, 1967; Lorke & Ehlert, 1988; Varvin, 2000)5. Ein Versagen der entwicklungsstufengerechten Abwehrorganisation hat aus psychoanalytischer Perspektive zwangsläufig den Versuch einer Stabilisierung durch Regression auf frühere oder primitivere Abwehrformen zur Folge. So beschreiben Lorke und Ehlert (1988) einen reinfantilisierenden, regressiven Sog, welcher aus dem der Täter-Opfer-Dynamik inhärenten Macht-Ohnmachtsgefälle und der begleitenden überflutenden Angst resultiert. In der Täter-Opfer-Konstellation erkennen sie eine strukturelle Identität mit der infantilen Position. Eine Nebenwirkung dieses Notlösungsversuchs liegt dann darin, dass das Ich von zwei Seiten her unter Druck gerät: »einmal von »außen«, von unkontrollierbaren Reizen, die es völlig zu überschwemmen drohen, und zum anderen von »innen«, durch die Reaktivierung infantiler Ängste, die es nicht mehr zuverlässig von der Realität unterscheiden kann« (Lorke & Ehlert, 1988, S. 506).
2.3.5 Die Ebene der Persönlichkeitsstrukturen
Aus welcher Eigenschaft beziehen traumatische Ereignisse ihr besonderes pathogenes Potenzial? Bereits Lorenzer (1966, S. 490) betrachtete »eine strukturelle – und d. h. bleibende – Veränderung des psychischen Apparates […] unter dem Druck des Traumas« als entscheidendes Kriterium. Als von Traumatisierungen betroffene strukturelle Dimensionen werden unter anderem Abwehrorganisation und Objektbeziehungsrepräsentanzen angeführt. In Ergänzung des für die akute traumatische Phase beschriebenen Zusammenbruchs der Abwehr nehmen zahlreiche AutorInnen spezifische – typischerweise unreife – Abwehrmechanismen als kennzeichnend für Traumafolgestörungen an (z. B. Fernando, 2012; Grubrich-Simitis, 1979; Lorenzer, 1965). Ein weiterer zentraler Ansatzpunkt der strukturzersetzenden Wirkung traumatischer Ereignisse sind aus psychoanalytischer Perspektive die Niederschläge insbesondere früher interaktioneller Erfahrungen. Unter diesen Erfahrungen bilden sich unser Selbstkonzept, unsere inneren Arbeitsmodelle in Bezug auf andere Menschen und das, was wir von ihnen zu erwarten haben, sowie resultierende Reaktionstendenzen heraus. Naturgemäß kommt der Interaktionen mit unseren zentralen Bezugspersonen eine besondere Rolle in diesem Prozess der Prägung unserer Persönlichkeit und der psychischen Strukturen, auf denen diese beruht, zu. Zahlreiche TheoretikerInnen haben diese Verhältnisse mit spezifischen Modellen abzubilden versucht. So spricht Kernberg (z. B. Clarkin, Yeomans & Kernberg, 2006) von inneren Objektbeziehungen, in welchen er die Bausteine unserer psychologischen Struktur erkennt. Diese bestehen aus einer Selbst- und einer Objektrepräsentation sowie einem beide verbindenden Affekt. Stern (1985) formuliert das Konzept generalisierter Interaktionsrepräsentanzen, Fonagy (2009) erkennt den zentralen Wirkort der Interaktion mit den Pflegepersonen im Bindungssystem und resultierenden inneren Arbeitsmodellen. Ohne die z. T. erheblichen Unterschiede zwischen solchen Ansätzen egalisieren zu wollen, können drei Gemeinsamkeiten festgehalten werden. Dies sind die zentrale Rolle insb. früher Interaktionserfahrungen, ihre Abbildung in überdauernden psychischen Strukturen, und deren organisierende Wirkung auf zukünftiges Erleben und daraus resultierendes Verhalten.
Im Einfluss traumatischer Erfahrungen auf Objektbeziehungsrepräsentanzen ist natürlich die Beeinträchtigung einer bereits entwickelten Struktur im hier betrachteten Fall des Erwachsenentraumas von den Folgen traumatischer Ereignisse auf eine sich in der Entwicklung befindende Struktur zu unterscheiden. Bohleber (2000, S. 821) fasst Beiträge von Laub (z. B. Laub & Auerhahn, 1991) zusammen:
»Die kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere Einsamkeit und äußerste Trostlosigkeit zur Folge hat. Die traumatische Realität zerstört den empathischen Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildet, und destruiert das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit mitmenschlicher Empathie, nämlich daß andere die grundlegenden Bedürfnisse anerkennen und auf sie eingehen.«
Laub (2000, S. 865) verwendet für diesen »Zustand innerer Objektlosigkeit« die Metapher einer »Erfahrung des leeren Kreises«. Küchenhoff (2004, S. 825) zieht die Bedeutung triangulierender Erfahrungen für die Entwicklung der psychischen Struktur als Verständnishilfe heran: »Im Trauma wird die […] trianguläre Struktur von Selbst, Objekt und Anderem zerstört. Der Andere erlaubt dem Selbst nicht mehr, die Differenzerfahrung zwischen Objekt und Anderem überhaupt erstmals zu machen oder sich immer wieder an ihr abzuarbeiten«. Unter Anwendung der Objektbeziehungstheorie konzeptualisieren Lorke und Ehlert (1988), wie spezifische Effekte traumatischer Ereignisse wie die Herausbildung von Täterintrojekten oder das sogenannte Stockholmsyndrom verstanden werden können. Der äußere Angriff durch den/die TäterIn wird demnach im Zuge des beschriebenen regressiven Sogs von einer inneren Dynamik der Reaktivierung infantiler Ängste komplettiert. Es kommt zu einem vollständigen Abbruch aller narzisstischer Besetzungszufuhr von außen wie von innen. »Die traumatische Regression ist auf diese Weise unauflöslich mit der Suche nach einem Hilfsich verbunden, an das die vom Ich unter dem Druck der eigenen Ohnmacht aufgegebenen, aber überlebenswichtigen Ichfunktionen delegiert werden können« (S. 508). Das tragische an der traumatischen Situation ist nun, dass einzig der/die TäterIn als mächtiges Gegenüber zur Verfügung steht:
»Die Delegation der Ichfunktionen, das Liebesbedürfnis und die Verschmelzungswünsche, die das Verfolgungstrauma im Opfer induziert, richten sich auf niemand anderen als auf den Täter. Er, der ja de facto über Leben oder Sterben, über Wert oder Unwert des Opfers entscheidet, wird vom Opfer erlebt, als sei er das Primärobjekt. Der Täter gerät also in die Position der frühesten Elternimagines, und er erhält damit deren Allmacht und deren narzißtische Qualitäten; er wird zum Garanten des psychischen Überlebens des Opfers« (S. 510, Hervorhebung im Original).
Es kommt nun zu einer Introjektion eines angenommenen (phantasmatischen) Verbots des Täters/der Täterin, durch dessen Überschreitung die Liebe des Primärobjektes verloren wurde, zusammen mit dem anscheinend aus diesem Übertritt resultierenden Fremdbild des Täters/der Täterin (Selbst als böse) ins Selbstbild.