Trauma. Lutz Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lutz Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170336476
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Unterkomplexität mehr als er erhellt, denn traumatisiert im klinischen Sinne werden nur Einzelpersonen.«

      Die Langzeitreaktion aus Perspektive der Zwei-Personen-Psychologie

      Erlebnisse, die geeignet sind, traumatische Prozesse in Gang zu setzen, führen häufig zu nur vorübergehenden Erschütterungen im Sinne von Anpassungsleistungen (

Kap. 3). Bei einem Teil der Betroffenen persistieren oder entwickeln sich jedoch überdauernde Verschiebungen im psychischen Gleichgewicht. Die zentrale Frage ist also, welcher Aspekt verhindert ein nachträgliches Durcharbeiten, eine nachträgliche Integration der traumatischen Erfahrung? Horowitz (1976) nimmt an, dass dem Bedürfnis nach Integration der neuen Information die Vermeidung extremer belastender Emotionen entgegensteht, so dass es zu einem Oszillieren zwischen dem Wiedererleben und der Vermeidung traumatischer Erinnerungen kommt. Ganz ähnlich spricht Lorenzer (1965, S. 698) davon, »[…] daß in der traumatischen Situation »ein unerträgliches Erlebnis Wirklichkeit wird«, das Ich also in seiner Wahrnehmung genau in jene Lage gerät, die es aus Gründen der Beziehung zu den anderen intrapsychischen Instanzen unbedingt vermeiden muß«. Dies ist weitgehend intrapsychisch oder aus der Perspektive einer Ein-Personen-Psychologie argumentiert. Dies deckt sich mit der Auskunft eines Patienten, der seine Erzählungen, wenn sie sich einem katastrophalen Unfallereignis annäherten, jedes Mal mit Tränen in den Augen abbrach und auf Nachfrage erklärte, dass er nicht weiter auf seine Erfahrung eintreten wolle, da dies nicht gut für ihn sei. Hier darf aber nicht vergessen werden, dass sich unsere psychischen Strukturen in der Interaktion mit unserer sozialen Umwelt entwickeln. Denkt man diesen Ansatz zu Ende und legt der posttraumatischen Vermeidung eine konsequente Zwei-Personen-Psychologie (Gill, 1982) zu Grunde, dann ist die Vermeidung des Durcharbeitens und Integrierens der traumatischen Erfahrung im realen oder verinnerlichten Gegenüber und assoziierten Selbstzuständen begründet. Dabei ist die Wahrnehmung des realen Gegenübers natürlich immer von den verinnerlichten und verallgemeinerten Erfahrungen mit früheren wichtigen Bezugspersonen vermittelt. Als zentraler Mechanismus, welcher der Chronifizierung posttraumatischer Zustände zugrunde liegt, sei an dieser Stelle also die aus früheren sozialen Erfahrungen resultierende Notwendigkeit, das Erleben und Kommunizieren eines spezifischen kognitiv-emotionalen Zustands zu vermeiden, postuliert. Der interpersonelle Ursprung der Kriterien, anhand derer über den Vermeidungsbedarf entschieden wird, ist sicherlich oft nicht erinnerbar oder bewusstseinsfähig. So individuell wie die der Persönlichkeitsstruktur zugrundeliegenden Objektbeziehungsrepräsentanzen, so ideosynkratisch muss auch das Vorgehen bei der Rekonstruktion dieses Vermeidungsbedarfs ausfallen. Dieses Konzept hat weitreichende behandlungstechnische Implikationen (
Kap. 5).

      Zusammenfassung

      Für ein psychoanalytisches Traumakonzept sind bis hierhin die folgenden Annahmen zentral:

      • Trauma ist kein objektives Ereignis, sondern eine subjektive Erfahrung

      • Die unmittelbare Reaktion ist gekennzeichnet durch Hilflosigkeit, Zusammenbruch der Abwehr und Regression.

      • Zentraler Wirkort der traumatischen Erfahrung sind Persönlichkeitsstrukturen mit Funktionen wie Abwehr oder Repräsentanzen von Objektbeziehungen.

      • Mit der Beschädigung der Welt der inneren guten Objekte geht eine Einschränkung der Symbolisierungsfähigkeit und Integrierbarkeit der traumatischen Erfahrung einher

      • Trauma impliziert einen nicht abschließbaren sozialen Prozess.

      • Aufrechterhaltender Faktor ist die aus einer Perspektive der Zwei-Personen-Psychologie zu verstehende Vermeidung. Diese verhindert das für Durcharbeiten und Integrieren der traumatischen Erfahrung notwendige Erleben und Ausdrücken des eigenen kognitiv-emotionalen Zustands.

      Im Vergleich der angeführten Konzepte fallen etliche Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede auf. Deutlich ist beispielsweise der Kontrast zwischen dem Stellenwert eines objektiven Ereigniskriteriums im DSM-V und der Betonung der subjektiven Erfahrung durch psychoanalytische AutorInnen. Kognitive wie psychoanalytische Ansätze messen unmittelbaren Erfahrungen wie der Empfindung einer mentalen Niederlage (Ehlers et al., 2000) oder Hilflosigkeit und Überwältigung (Fischer & Riedesser, 2009) eine wichtige Rolle bei. Sowohl die erwähnten kognitiv-behavioralen als auch die psychoanalytischen Modelle nehmen die sich einer Integration verweigernde Speicherung oder Repräsentation der traumatischen Erinnerungen wahr. Während die erstgenannten Modelle hierin eine zentrale Ursache und in der PTBS damit eine Gedächtnisstörung erkennen, erscheint dies aus psychoanalytischer Perspektive mechanisch (Bohleber, 2007). So messen denn die einen TheoretikerInnen peritraumatischen Aspekten wie Aufmerksamkeitseinengung oder neurokognitiven Dysfunktionen zentralen Erklärungswert bei, während die anderen auf biografische Bedeutungszusammenhänge verweisen und die Interaktion mit inneren Objektbeziehungen anführen. Natürlich erkennen auch die kognitiven Ansätze die Rolle von Bedeutungszusammenhängen an. Mit der Fokussierung auf Bedrohungsbewertungen oder maladaptive Interpretationen ist hier jedoch eine starke Einschränkung des Bedeutungskonzepts im Vergleich zu psychoanalytischen Ansätzen festzustellen. Hinter den von kognitiven Ansätzen beschriebenen vorbestehenden Überzeugungssystemen stände aus psychoanalytischer Sicht die Wirkung der inneren Objektbeziehungsrepräsentanzen. Die interpersonellen Implikationen fallen aber wieder sehr unterschiedlich aus, was sich gut im Kontrast der hier geforderten Zwei- vs. Ein-Personen-Psychologie abbilden lässt. Ein weiterer Unterschied ist die Art der empirischen Verankerung der Konzepte. Während sich die kognitiv-behavioralen Ansätze in der psychiatrisch-psychologischen und neurokognitiven Forschung verankern, argumentieren viele psychoanalytische Autoren klinisch. Sicherlich ist Fernando (2012, S. 1070) uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er feststellt: »Es wartet eine Welt von Phänomenen darauf, erforscht zu werden. Natürlich haben schon viele analytische und nichtanalytische Autoren eben dies getan.« Wenn er aber das Verhältnis von konzeptuellem und empirischem Reichtum solcherart beurteilt, dass die »Hauptschwierigkeit, die einer weiterreichenden Erkundung im Weg steht, […] nicht ein Mangel an Daten, sondern ein Mangel an konzeptueller Klarheit« ist, dann erscheint diese Schlussfolgerung in Bezug auf psychoanalytische Beiträge zumindest fraglich zu sein. Entsprechend bemüht sich das folgende Kapitel um eine tour d’horizon zu empirischen Daten der psychotraumatologischen Grundlagenforschung.

      Literatur zur vertiefenden Lektüre

      Becker, D. (2007). Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten Berlin: Freitag Mediengesellschaft.

      Bohleber, W. (2000). Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche, 54(9-10), 797-839.

      Fragen zum weiteren Nachdenken

      Kudler (2012) führt seine Überlegungen zum Traumakonzept unter drei Gegensatzpaaren auf, die gemäß seiner Darstellung ausgehend vom Dissens zwischen Freud und Breuer bis heute das Feld der Psychotraumatologie spalten. Diese seien hier in Form dreier Fragen präsentiert.

      • Ist Trauma ein vergangenes äußeres Ereignis oder ein andauernder innerer Prozess?

      • Ist Trauma ein biologisches oder ein psychologisches Ereignis?

      • Treffen wir das Trauma in der Psyche unserer PatientInnen oder in der therapeutischen Beziehung an?