»Für die Entstehung der Krankheit ist das physische Trauma nur z. T. verantwortlich zu machen. Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung. Die Verletzung schafft allerdings directe Folgezustände, die aber in der Regel keine wesentliche Bedeutung gewinnen würden, wenn nicht die krankhaft alterierte Psyche in ihrer abnormen Reaction auf diese körperlichen Beschwerden die dauernde Krankheit schüfe« (Oppenheim, 1889, S. 123–124).
Eine erste Blütezeit eines psychischen Traumabegriffs lässt sich in den Arbeiten zur traumatischen Hysterie von Charcot und seinen Schülern erkennen. Hierbei sind insbesondere die Beiträge Pierre Janets als Vorläufer der heutigen Dissoziationstheorie (vgl. van der Hart & Horst, 1989) sowie diejenigen von Freud (z. B. Freud & Breuer, 1895/1987) zu nennen. Freuds unheilvolles Schwanken zwischen Anerkennung der äußeren traumatisierenden Realität und ihrer ebenso schädlichen wie unnötigen Infragestellung wird detailliert von Venzlaff et al. (2009) nachgezeichnet. Die beiden Weltkriege und der Bedarf an Soldaten, deren Funktionsfähigkeit nicht vom Horror der Schlachtfelder beeinträchtigt sein sollte, boten traurige Gelegenheit zur Präzisierung phänomenologischer Beobachtungen und zur Entwicklung der unterschiedlichsten Interventionsstrategien. Die in unverantwortlicher Weise verzögerte Anerkennung der psychischen Folgen der Extremereignisse (Bettelheim, 1943) im Zuge des deutschen Genozids an der jüdischen und vielen anderen Bevölkerungsgruppen zeitigt schließlich ebenso erschütternde wie tiefgreifende Erkenntnisse über die Wirkungsweise eines realisierten psychotischen Kosmos’ (Grubrich-Simitis, 1979). Schließlich sind es der Vietnamkrieg und die amerikanische Frauenrechtsbewegung, welche das Bewusstsein für die Folgen traumatischer Ereignisse in solcher Weise schärfen, dass diese 1980 erstmals in Form der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ins DSM-III (APA, 1980) aufgenommen wird.
1.1 Psychoanalytische Beiträge zu den Traumakonzepten des späten 19. Jahrhunderts
Zur Beantwortung der Frage, welche Rolle die Psychoanalyse für die Entwicklung der heutigen Psychotraumatologie spielte, werden in diesem und dem folgenden Abschnitt einige selektiv ausgewählte Beiträge psychodynamisch orientierter ForscherInnen und KlinikerInnen zu den genannten Entwicklungsphasen aufgelistet. Dabei werden auffallende Parallelen zwischen den fast schon historischen psychoanalytischen Beiträgen und aktuellen psychotraumatologischen Positionen herausgearbeitet.
Werfen wir einen Blick in die Studien über Hysterie (Freud & Breuer, 1895/1987), wo wir – wie von Kuster (2008) beschrieben – in der Behandlung »hysterische[r] Symptome traumatischen Ursprungs« (Freud & Breuer, 1895/1987, S. 168, Hervorhebung im Original) Freuds Schritt vom suggestiv arbeitenden Psychotherapeuten zum zuhörenden Psychoanalytiker beobachten können. Hier lesen wir:
»Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer grössten Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer wirkungslos […]« (S. 9–10, Hervorhebung im Original).
Dieser Traumakonfrontation bei angenommenem Wirkfaktor des kathartischen Abreagierens stellen die Autoren einen weiteren Aspekt zur Seite:
»Die Erinnerung daran tritt, auch wenn sie nicht abreagiert wurde, in den großen Komplex der Assoziation ein, sie rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Korrektur durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfalle z. B. gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der (abgeschwächten) Wiederholung des Schreckens die Erinnerung des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußtsein der jetzigen Sicherheit« (S. 21).
Das heißt, heilende Kraft wird der Verknüpfung der isolierten episodischen Gedächtnisspur vom traumatischen Ereignis mit dem erweiterten und heutigen Lebenskontext zugesprochen, worin sich das Konzept des Kontextlernens erkennen lässt. Vergleichen wir diese Ausführungen mit dem Vorgehen bei der Narrativen Expositionstherapie (NET; Schauer, Neuner & Elbert, 2005), einem manualisierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsansatz, welcher auch Elemente der Testimony Therapy integriert:
»In der NET spricht der Patient wiederholt detailliert über das schlimmste traumatische Ereignis und erlebt dabei die Emotionen, die mit diesem assoziiert sind, erneut. In diesem Prozess konstruiert der Patient eine Erzählung seines Lebens, bei welcher er auf die detaillierte Schilderung der traumatischen Erfahrungen fokussiert. Die Mehrheit der Personen habituiert und verliert ihre emotionale Reaktion auf die traumatische Erinnerung, was in der Folge zu einem Nachlassen der PTBS-Symptome führt« (S. 24, eigene Übersetzung).
Auf Seite 36 (eigene Übersetzung) des Manuals erfahren wir dann:
»Es ist wichtig, dem Prozess der Habituation zu vertrauen. Dieser kontinuierliche Prozess der Erfahrung heisser Erinnerungen (›hot memory‹), während Elemente in Worte und in eine kohärente Erzählung umgewandelt werden, führt zu Habituation. Hierdurch werden die emotionale Wucht der Empfindungen und die psychophysiologische Erregung abnehmen. Anfangs mögen einige Gefühle schwierig auszuhalten sein, wie Wut, Sprachlosigkeit, und Schuld. Der Moment der Exposition ist jedoch der Moment, die Furcht intensiv zu spüren«.
Es ist offensichtlich, dass diese AutorInnen zur Erklärung der Wirkung von NET auf andere Wirkfaktoren rekurrieren, als Freud und Breuer dies taten. Habituation klingt sicher sehr viel moderner und wissenschaftlicher als Katharsis. Gedenken wir aber der Mahnung von Venzlaff et al. (2009): »Lachen wir nicht: Unsere heutigen Theoriegebäude werden künftigen Generationen sicher auch eine Quelle der Heiterkeit sein« (S 10.)1. Und tatsächlich, schon unterwirft einer der Autoren des NET-Manuals diese Aussagen einer kritischen Prüfung:
»Die ursprüngliche Annahme für die Wirkung dieses Vorgehens geht, in Analogie zur Behandlung von Phobien, zurück auf die Annahme der Habituation der Furcht. […] Neuere Theorien gehen dagegen davon aus, dass die ursprünglichen assoziativen Furchtstrukturen von der Exposition weitgehend unberührt bleiben. Dagegen etabliert sich durch die geleitete Erinnerung eine neue Erfahrung, die inkompatibel ist mit dem ursprünglichen traumatischen Erlebnis. […] Zu den neuen, traumainkompatiblen Erfahrungen gehört beispielsweise die Vervollständigung des autobiografischen Gedächtnisses, die Kontextualisierung der Erinnerung in Zeit und Raum, die Aufarbeitung von Schuldgefühlen sowie die Widerlegung von schambesetzten Grundannahmen durch die therapeutische Beziehung« (Neuner, 2015, S. 5).
Auch hier lässt sich also das Konzept des Kontextlernens erkennen. Dass es Unterschiede zwischen den Beschreibungen des technischen Vorgehens in der Traumakonfrontation zwischen beiden Ansätze gibt, ist offensichtlich: die Entwicklung immer raffinierterer Expositionstechniken durch die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) sei an dieser Stelle ausdrücklich begrüßt und anerkannt. Nichtsdestoweniger überraschen die großen Überschneidungen in Bezug auf theoretische Erklärungsmodelle (Notwendigkeit therapeutisch