Mit dem geistigen Umschwung415 seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts geht das Aussterben der alten philosophischen Schulen parallel; Epikureer, Cyniker, Peripatetiker usw. verschwinden, selbst die Stoiker, deren Sinnesweise sich mit den besten Seiten des römischen Charakters so enge verbunden hatte. Neben einem sehr entwickelten theoretischen Skeptizismus hatte der offene Hohn eines Lucian die Nichtigkeit aller Sektenunterschiede proklamiert416, während doch bereits als Reaktion eine neue Lehre, dogmatischer als alle frühern und also gewissermassen in Harmonie mit der neuen religiösen Regung, vor der Tür wartete. Es war dies der Neuplatonismus. Vor ihm her ging eine sonderbare Befreundung mit orientalischem Aberglauben und ein emsiges Forschen in den Erinnerungen an die alte, längst verschollene Schule des Pythagoras, dessen Weisheit man ebenfalls für orientalischen Ursprunges hielt; sonst wurde aus dem platonischen System selber das Wesentliche für den neuen Bau entlehnt. Der Träger der Schule in der mittlern Zeit des dritten Jahrhunderts, Plotinus, erscheint als bedeutender Denker, und das System in seinem mystischen Schwung als ein möglicher Gewinn gegenüber dem öden Skeptizismus, welcher vorher geherrscht hatte. Es liegt etwas Wahres und noch mehr poetisch Schönes in der Lehre von dem Ausfluss aller Dinge aus Gott, in bestimmten absteigenden Graden des Daseins, je nach der grössern oder geringern Mischung mit der Materie. Kein System hat der menschlichen Seele einen höhern Rang angewiesen; sie ist eine unmittelbare Emanation aus dem göttlichen Wesen und kann sich zeitweise ganz mit demselben vereinigen, wobei sie dann über alles gewöhnliche Leben und Denken hinausgehoben ist. Wir haben es jedoch weniger mit der Schullehre zu tun als mit der praktischen, sowohl moralischen als namentlich religiösen Stellung, welche der Neuplatonismus seinen Jüngern anwies oder gestattete. Es wiederholt sich hier die alte und neue Erscheinung, dass ein spekulatives System wider Vermeinen nur das Band, der zufällige Zusammenhalt, keinesweges aber der herrschende Mittelpunkt ist für Richtungen und Kräfte, die auch ohne sein Zutun vorhanden wären.
Diese späteste Philosophensekte des Altertums zeigt, wie vor allem bemerkt werden muss, durchaus keinen Fortschritt nach der Seite des Monotheismus hin, welcher bei vielen frühern Denkern weit mehr ausgebildet erscheint als in dem »Einen«, dem »Einen schlechthin«, oder wie sonst die neuen Benennungen der höchsten Gottheit oder des Urwesens lauten, das zwar bewusst, aber in pantheistischer Weise der Welt innewohnend gedacht wurde. Daneben nahm man den ganzen Polytheismus in das System herein in Gestalt des Glaubens an die Dämonen, welche als Untergötter den einzelnen Ländern, der Natur, den Lebensbeziehungen vorstehen sollten. Sie sind von jeher in der griechischen Religion vorhanden, aber in sehr schwankender Gestalt, bald mehr bald weniger von den Göttern unterschieden und frühe schon von der Philosophie nicht ohne Willkür in theologische Systeme verwoben. Später gibt ihnen der Volksglaube in der Regel eine unheimliche, gespenstische Gestalt und betrachtet sie wohl hie und da als Rächer des Bösen und als Beschützer, doch vorherrschend als Sender von Krankheiten417. Die neuplatonische Philosophie fasste sie, wie wir sehen werden, als demiurgische Mittelwesen auf.
Die alten Götter waren auf diese Weise überflüssig, wenn sie nicht geradezu selber in diese Reihe eintraten und sich dämonisierten. Von der vulgären Mythologie liess sich natürlich jetzt kein Gebrauch mehr machen, und so wurden die Mythen sinnbildlich ausgedeutet, als Hüllen physischer, religiöser und sittlicher Wahrheiten, wobei bisweilen die verschrobensten Erklärungen zutage kamen, gerade wie beim Euhemerismus, wovon diese Tendenz die Kehrseite bildet. In der Lehre von der Menschenseele, so hoch dieselbe auch als göttliche Emanation gestellt wird, reicht das System nicht bis zur ewigen Seligkeit, sondern nur bis zur Seelenwanderung, die sich allerdings bei den Besten zu einer Versetzung in bestimmte Gestirne modifiziert; wir sahen, dass die Überlebenden bisweilen das betreffende Sternbild zu erraten meinten. Ja, schon hienieden wurden den Eingeweihten bisweilen, doch gerade den Frühern und Bessern nur höchst selten, Augenblicke der Seligkeit zuteil, da sie Gott zu schauen glaubten.
Wesentlicher als diese Theosophie, ja, ein bedeutendes Zeichen des Jahrhunderts, ist das Zusammentreffen der Neuplatoniker mit der in der Zeit liegenden Richtung auf Moralität und Ascese. Diese wird wohl als etwas spezifisch Christliches der freien antiken Sittlichkeit gegenübergestellt, wie die christliche Jenseitigkeit der antiken Diesseitigkeit, aber mit ebenso geringem Rechte, sobald man das Heidentum des dritten Jahrhunderts ins Auge fasst. Auch hier erkennen wir eine merkwürdige Vorahnung oder Spiegelung dessen, was das folgende Jahrhundert bringen sollte.
Der Neuplatonismus nämlich stellt heidnische Ideale auf, Lebensgeschichten begnadigter Götterfreunde, welche, in unbedingter Enthaltsamkeit lebend, bei allen berühmten Völkern des Altertums herumreisen, deren Weisheit und Mysterien ergründen und durch ihren beständigen Verkehr mit der Gottheit sich zu Wundertätern und übermenschlichen Wesen entwickeln. Mit der allzu genau historisch bekannten Person des göttlichen Plato selber wurde dies nicht versucht, obwohl er in der Schule immerhin ein dämonisches Ansehen genoss; ein gewisser Nikagoras von Athen zum Beispiel, der zur Zeit Constantins die Wunder Ägyptens besuchte, hat in den Grüften von Theben seinem Namen das Gebet beigeschrieben: »Auch hier sei mir gnädig, Plato!«418 Dafür lag Pythagoras schon weit genug in mythischer Ferne, um zu einer Bearbeitung seines Lebens in diesem Sinne einzuladen, die denn auch von Iamblichus (zur Zeit Constantins) unternommen wurde, nachdem noch dessen nächster Vorgänger Porphyrius den Pythagoras mehr in historisch besonnener Weise geschildert hatte. Andererseits war das Leben des Wundertäters Apollonius von Tyana, obwohl es erst in das erste Jahrhundert nach Christus fiel, dunkel und ausserordentlich genug gewesen, um zum Tendenzroman verarbeitet werden zu können, und bereits unter Septimius Severus unterzog sich Philostratus dieser Aufgabe419. Es ist hier nicht die Stelle, dieses höchst merkwürdige Buch zu analysieren, wir müssen nur auf den sonderbaren Kompromiss hinweisen, welchen hier die alte griechische Subjektivität mit der orientalischen Wundersucht und Kasteiung geschlossen hat. Derselbe Apollonius, welcher barfuss im Linnenkleid einhergeht, keine tierische Nahrung noch Wein geniesst, kein Weib berührt, sein Vermögen verschenkt, alles weiss420 und kennt – selbst die Tiersprachen –, in Hungersnot und Aufruhr wie ein Gott auftritt, Wunder über Wunder tut, Dämonen austreibt und Tote erweckt, dieser nämliche übt den vollen griechischen Kultus der Persönlichkeit und zeigt bisweilen das eitle Selbstgefühl eines verzogenen Sophisten. Zunächst ist er von gutem Hause, schön von Gestalt, spricht rein attisch und hat schon als Knabe die sämtlichen Systeme hinter sich; Huldigungen aller Art nimmt er mit grösster Gravität in Empfang; er weiss schon sehr früh, dass der Punkt erreicht sei, da er nicht mehr zu forschen, sondern das Erforschte mitzuteilen habe. Von Demut ist überhaupt noch keine Spur zu entdecken, vielmehr sucht der heilige Mann andere zu demütigen, und wer zu seinen Vorträgen lacht, den erklärt er für besessen und beschwört ihn demgemäss. Manche Züge dieses Bildes entlehnte hundert Jahre später Iamblichus, um sein Pythagorasideal damit auszustatten, das sonst zum Teil auf der mehr oder weniger echten alten Tradition beruht. Auch Pythagoras, um sich als eine »von Apoll geführte Seele«, ja als menschgewordener Apoll auszuweisen, muss jetzt nicht bloss ascetisch leben, sondern auch Wunder tun, vom Karmel an die Meeresküste niederschweben, Tiere beschwören, an mehreren Orten zugleich sein u. dgl. mehr.
Die Vorbilder der in diesen Idealgestalten personifizierten beschaulichen Ascese hat man offenbar in den Büssern der verschiedenen orientalischen Religionen zu suchen, von den jüdischen Nasiräern und Therapeuten bis zu den enthaltsamen Magiern Persiens und den indischen Fakirs, welche den Griechen als Gymnosophisten recht wohl bekannt waren. Aber auch die theoretisch zur Sittlichkeit leitende Lehre von dem Abfall der Menschenseele, von ihrer Verunreinigung durch die Materie, von der Notwendigkeit ihrer Reinigung ist orientalischen, und zwar am ehesten indischen Ursprunges421. Nur hätte weder die Busse noch ihre spekulative Begründung allein von Osten her