Die erwähnten Mithrassteine nördlich von den Alpen und der Donau rühren nach aller Wahrscheinlichkeit und zum Teil erweislich von römischen Kriegern her390. Welche Stellung nahm der Eingeweihte im täglichen Lagerverkehr ein? Wie hing diese ganze Andacht mit der kriegerischen und politischen Aufgabe der höhern Offiziere zusammen? Bildete sie ein wirksames Band unter denselben? Hatte sie sittlichen Anteil daran, als das römische Wesen sich in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts noch einmal aufraffte? Alle diese Fragen bleiben unbeantwortet, solange die Mithraslehre nur aus den wenigen Stellen meist christlicher Autoren bekannt ist. Der Fundort der Mithrassteine sind künstliche oder natürliche Höhlen, bisweilen auch Freibauten, oft von wenigen Fuss ins Gevierte, deren Hinterwand das Relief einnahm; ein Raum, der höchstens ein paar Menschen fasst; wenn sich eine Menge einfand, so muss man sich dieselbe draussen stehend denken. Selbst das grosse Heddernheimer Mithreum ist keine 40' lang, und von seinen 25' Breite bleibt der Nebenzellen wegen nur ein 8' breiter Gang übrig. In dem kleinen Neuenheimer Mithreum von 8' ins Gevierte war das Innere überdies verstellt mit Altären und Bildwerken verwandter Gottheiten, wie zum Beispiel Herkules, Juppiter, Victoria, auch fanden sich Geschirre, Lampen u. a. Fragmente vor. Die baulichen Zutaten, reichverzierte Säulen u. dgl. zeigen, dass sich diese Heiligtümer keinesweges dem Blick zu entziehen suchten. Wer hätte sie auch zu entweihen gewagt? Die Soldaten, welche hier Geheimdienste feierten, waren die Herren der Welt391.
Viel prächtiger und grösser darf man sich die Mithrashöhle in Rom vorstellen (wo sie in den Kapitolinischen Hügel hineinging)392, ebenso diejenigen in den übrigen grossen Städten des Reiches. In Alexandria lag das Heiligtum tief unter der Erde393; als man es in der christlichen Zeit wieder aufgrub, um eine Kirche dorthin zu bauen, ging noch die dunkle Sage von vielen Ermordungen, die sich an dieser Stätte zugetragen, und wirklich mochten manche ob den »Züchtigungen« das Leben eingebüsst haben; nur schrieb man, als sich wirklich Totenschädel vorfanden, dieselben irrig solchen zu, welche hier zum Behuf der Eingeweideschau und zur Seelenbeschwörung seien geschlachtet worden. Der Mithrasdienst hatte damit nichts zu tun, wohl aber war die ägyptische Phantasie von Hause aus mit solchen Greueln ganz erfüllt, wie wir sehen werden.
Gegen hundert Reliefs und Inschriften394 beweisen die Verbreitung dieses Dienstes durch das ganze Reich; Tausende mögen noch unter der Erde verschüttet liegen, und es ist nur zu wünschen, dass die Ausgrabung immer in solche Hände falle, wie zu Heddernheim, Neuenheim und Osterburken geschehen. Vielleicht kann der Inhalt einer einzigen wohlerhaltenen Mithrashöhle ein entscheidendes Licht auf diesen merkwürdigsten aller spätern Geheimkulte werfen.
Allerdings ist derselbe nicht unberührt geblieben von dem grossen Strom der übrigen Superstitionen dieser Zeit. Fürs erste gab es manche, die der Mysterien gar nicht genug bekommen konnten und sich deshalb bei der dreigestaltigen Diana, dem Taurobolium der Grossen Mutter, den bacchischen Kulten, dem Isisdienst und bei Mithras zugleich versicherten – eine Fusion aller heidnischen Geheimdienste, die allerdings erst im Laufe des vierten Jahrhunderts zur Regel wurde395, schon vorher aber gewiss nicht selten war. Unter Mitwirkung der Lehre von der Einheit alles göttlichen Wesens musste man vollends gleichgültig werden gegen alle scharfe Abgrenzung der einzelnen Kulte, so dass der eine von dem andern manches annahm. Auch die neuplatonische Philosophie mischte sich in den Mithrasglauben wie in alle Geheimnisse, und einem ihrer namhaftesten Anhänger, dem Porphyrius, verdanken wir die fast einzige Aufzeichnung von heidnischer Seite über diesen Gegenstand. Nur verfolgt diese oft angeführte Schrift über die Nymphengrotte396 leider nicht sowohl den damaligen Bestand als vielmehr die ursprüngliche Bedeutung desselben, und auch diese in einseitigem, willkürlich symbolisierendem Schulinteresse397. Da erfahren wir, die Grotte sei ein Bild des Kosmos, der Welt; deshalb habe schon Zoroaster in den Gebirgen Persiens eine blumige, quellenreiche Höhle geweiht zu Ehren des Weltschöpfers und Lenkers Mithras; in dieser Urhöhle seien die Symbole der Weltelemente und Weltzonen angebracht; von hier seien seitdem alle Höhlenmysterien ausgegangen. Andererseits aber knüpft sich die ganze Schrift an die von Homer398 besungene Grotte auf Ithaka und verlegt den Herd der Symbolik in diese. Porphyrius hat jene bodenlose Manier, welche sich bemüht, in den Mythen alles identisch zu finden und einen Anklang immer an den andern zu hängen. Einzelne beiläufige Winke aber sind von grossem Werte, wenn er zum Beispiel die nördliche und die südliche Tür seiner Welthöhle den zur Erdengeburt herniedersteigenden und den zu den Göttern durch den Tod emporsteigenden Seelen, der Genesis und der Apogenesis, zuweist und sich überhaupt mehrfach auf Leben und Läuterung der Seelen bezieht.
Endlich lag eine natürliche Verwandtschaft für Mithras bereit in der Person des griechisch-römischen Sonnengottes, mochte man sich denselben als Apoll oder von diesem getrennt als Sol, Helios denken. Es wird wohl nie zu ermitteln sein, wie weit Mithras in diesen aufging; vielleicht ist Sol invictus, der seit Mitte des dritten Jahrhunderts auf Münzen und Inschriften häufiger wird, überall als Mithras aufzufassen399, wenn er auch öffentlich nur als Sonnengott abgebildet wurde. Der Sonnendienst früherer Kaiser mochte sich an semitischen Kult anlehnen, zum Beispiel bei Elagabal, und bei Aurelian400 bleibt man noch einmal völlig im Ungewissen, welcher Art seine Religion gewesen. Seine Mutter war Sonnenpriesterin in einer Ortschaft an der untern Donau, und wenn jemand sie für eine jener weiblichen Mithrasgläubigen halten will, von welchen hie und da die Rede ist, etwa für eine »Löwin«, so liegt hierin wenigstens keine Unmöglichkeit. Nach der Plünderung des Sonnentempels von Palmyra dagegen befiehlt er dessen Herstellung durch einen seiner Generale und fügt bei: »ich will an den Senat schreiben und ihn ersuchen, einen Pontifex zu senden, der den Tempel wieder einweihen mag« – was den gewöhnlichen römischen Ritus voraussetzt, obwohl es sich um das Heiligtum eines semitischen Baal handelt.