AFTERTASTE - Jenseits des guten Geschmacks. Andrew Post. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrew Post
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353251
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erstes Ziel ist eine Konditorei, die unter anderem Zimtschnecken backt. Er drückt sein Gesicht gegen ihr Schaufenster wie ein Wels, der an der Wand eines Aquariums saugt, und beobachtet die Angestellten, die ihn ignorieren, so gut es geht, während sie ungleichmäßig – aber das ist absolut verzeihbar – weißen Zuckerguss auf dem Gebäck verteilen. Sein Magen tut weh, ihm schwirrt der Kopf, er könnte in diesem Zeug baden, sich die Glasur in den Rachen laufen lassen, bis er aufplatzt, und … na ja, wahrscheinlich auch wieder verschlingen, was herausquillt, würde den ganzen Vorgang unendlich oft wiederholen und praktisch zum Spritzguss-Ouroboros werden.

      »Sir, möchten Sie vielleicht … eine Kostprobe?«, fragt die nächste Bäckerin im Laden, dem CinnaBon. Anhand ihrer Miene lässt sich klar erkennen, dass sie hofft, ihn so zu vertreiben. Er ist außerstande, ihr zu antworten, weil sich so viel Speichel in seinem Mund gesammelt hat, dass er kurz vorm Sabbern ist, und nickt deshalb nur dämlich. Sie gibt ihm einen Stick, der so lang ist wie sein Daumen, mit einem Schälchen dieses Orgasmen erregenden Glibbers. Er verschwindet weder damit, um es irgendwo in aller Ruhe zu verzehren, noch ist es ihm nur einen Dank wert. Was er tut, kann man wohl nicht einmal beschönigend »essen« nennen. Es entspricht dem, was Einzeller tun, »die Beute absorbieren«.

      Sobald er sie sich einverleibt hat, wird Zilch seiner selbst wieder gewahr und fährt sich mit einem Handrücken durchs Gesicht. Krümel bleiben daran kleben. Die junge Frau mit der Schirmkappe und dem Namensschild bleibt freundlich – eventuell hat sie einen tattrigen Onkel oder so etwas in der Art – und weiß, wie man mit liebenswürdigen Trotteln umgeht, also bietet sie ihm eine Serviette an. Diese nimmt er und rückt endlich ab, nun da er gesättigt ist, nicht ohne sich ein bisschen zu schämen – aber da sich der Zuckerschub, eine gewaltige Spritzgussbombe, so heftig auf sein Gehirn auswirkt, könnte er beim Gehen glatt hochspringen und die Hacken zusammenschlagen.

      »Sir, wollen Sie mal probieren?«, fragt jemand. Zilch dreht sich langsam um.

      »Was für ein Paradies ist das hier?«, fragt er in den Äther und macht große Augen. Dabei hatte er schon befürchtet, etwas stehlen zu müssen, besonders weil man damals, als er noch ein Kind war, nur eines gratis bekam, nämlich die Aufforderung, sich zu verziehen.

      Dieser nächste Imbissverkäufer, ein braunhäutiger Mann mittleren Alters mit gütigen Augen, reicht ihm einen Zahnstocher, auf dem ein Fleischwürfel steckt. Dieser schmeckt atemberaubend: salzig, saftig, stark nach … Kreuzkümmel und sehr viel Knoblauch – aber das geht in Ordnung, Zilch mochte die Knolle schon immer –, aber auch etwas Paprika, einer Prise Cayennepfeffer sowie einem winzigen bisschen Zimt und möglicherweise auch ein, zwei Tropfen Kokosmilch. Abschließend vielleicht noch Safran?

      »Was war das?« Er zeigt mit dem fettigen Holzstäbchen auf den Knubbel an einer seiner Backen, dorthin hat er das Fleisch gerade geschoben. Der Name der Bude steht in roten Leuchtbuchstaben darüber, sagt ihm aber nichts. Er könnte ihn gar nicht aussprechen.

      »Rind nach libanesischer Art«, antwortet der Angestellte befremdlich stolz mit durchgedrücktem Kreuz.

      »Gutes Zeug«, entgegnet Zilch und tut lässig, indem er den Zahnstocher so in eine Mülltonne wirft, als wolle er sagen »Hab schon Besseres gegessen«. Dann schlendert er weiter, doch offen gestanden war es viel mehr als nur gut, weshalb er die Person, die es zubereitet hat, am liebsten küssen und einen Altar mit ihrem Konterfei errichten würde, gänzlich überzogen mit dieser unvergleichlichen Marinade.

      Am nächsten Stand in der Passage bekommt er wieder etwas angeboten. Es ist weder Zimtgebäck noch aus dem Libanon oder ähnlich exotisch, sondern bloß ein viereckiges Stück Pizza. Die Soße schmeckt seinem Dafürhalten nach etwas zu süß, und die Peperoni hätte man länger im Ofen lassen können, doch der Jungspund hinter der Theke hat ein Gesicht wie Streuselkuchen – Akne, lass den mal höchstens siebzehn sein –, also sieht Zilch darüber hinweg. Er selbst hätte sich geschämt, so etwas zu backen, aber der Teig ist genau richtig geraten, und das Rezept stammt bestimmt nicht von dem Jungen, weshalb er ihm dankt und weitergeht.

      Er wird schon wieder großkotzig wie damals als Koch. Du beklagst dich über Pizza, Mann, hält er sich vor. So etwas wie schlechte Pizza gibt es nicht. Geh's mal einzeln durch: Käse war da? Ja. Soße vorhanden? Ja. Der Boden durch? Ja. Halt also die Klappe, Pizza ist zweifellos besser als neunzig Prozent aller anderen Sachen, die man essen kann, oder?

      »Lust auf ein Häppchen, Sir?«, fragt jemand in holprigem Englisch.

      Zilch entgegnet, ohne überhaupt hinzuschauen, um zu sehen, worum es geht: »Ja, ja, unbedingt.« Es handelt sich um eine Kreuzung aus Frühlingsrolle und Jiǎozi mit Kimchi-Füllung, scharf und ein Gaumenschmaus. Hell schmeckt es, falls das nachvollziehbar erscheint. Der Kohl wurde gekonnt eingelegt, und das Ding ist in jeder Hinsicht heiß, aber keineswegs übertrieben … Wahnsinn, einfach Wahnsinn.

      Die Verkäuferin zeigt sich zutiefst dankbar dafür, dass Zilch sich Zeit genommen hat, um ihre Ware zu kosten, entschuldigt sich jedoch unverständlicherweise, nachdem er verputzt hat, was er geboten bekam, und zeigt auf etwas an seiner Brust. Er wird leicht verlegen, als er sieht, dass Jacob F. Steins Anzug mit Spritzern, Flecken und Klecksen aus der halben kulinarischen Welt versaut ist. Er bedankt sich und schlägt die Servietten aus dem Spender an der Theke aus, weil er zum Säubern dieser Schweinerei mehr brauchen würde, als diese Lady hat. Stattdessen bricht er auf und sucht eine Herrentoilette. Unterwegs schämt er sich nicht, obwohl all die Teenager, die in Cliquen herumstrolchen, untereinander tuscheln und ihn im Vorbeigehen auslachen. Er hat gerade eine der schönsten Verköstigungen seit Jahren erlebt und begreift die Essensspuren als schmierige Ehrenabzeichen.

      Während er von einem Lageplan des Zentrums zum nächsten dackelt, die ihn konsequent von den Klos wegzuführen scheinen, überlegt er, wann er zuletzt etwas gegessen hat. Was es war, fällt ihm erst nach einer Minute ein. Ach ja, verabscheuungswürdiger Schneemensch, in Wein geschmort.

      Als Zilch eine Toilette findet, macht er sich mit ein paar feuchten Papiertüchern einigermaßen sauber. Der Beckett-Prozess ist nun abgeschlossen, und im Ganzkörperspiegel erkennt er, dass der Anzug, den er trägt, einem wesentlich korpulenteren Mann gehörte. Darum sieht er aus wie eine Vogelscheuche oder ein Dummy, der rittlings auf einem Haufen Feuerholz hockt.

      Er klopft die Taschen ab. Logischerweise hat man den Körper, in den er gesprungen ist, ohne persönliche Gegenstände begraben. So wie meistens. Manchmal stößt er auf Taschenuhren oder Baseballkarten, aber nie auf Bargeld, Kreditkarten oder etwas Entsprechendes. Nachdem er auf den Hauptflur der Einkaufsmeile zurückgekehrt ist, durchquert er zuerst den Rest des Obergeschosses und dann das untere. Dort, neben einem Spielsalon, aus dessen offener Tür es durcheinander piept und heult, befindet sich das Internetcafé. Deswegen ist der steife Zeitgenosse, der das Lokal führt, so gut wie gar nicht zu verstehen, auch weil er hinter einer Trennwand aus verschmiertem Glas steht und die Tür daneben, die mit einer Platte aus schwarzem Plastik blickdicht gemacht wurde, geschlossen ist. Im Gegensatz zum letzten Mal, als Zilch hier war, läuft es anders ab, doch er wundert sich ungeachtet dessen, dass das Café überhaupt noch existiert. Leider funktioniert es jetzt nach dem gängigen Trend: Zahl am Fenster, die Tür öffnet sich auf ein Brummzeichen hin, und dann – nur dann – darfst du deine Pornoseiten aufrufen.

      Der spießige Typ hinter der Scheibe mustert ihn vom Scheitel bis zu den Schuhen. Zilch ist klar, dass sein Aussehen Verwirrung stiften mag: Zu gut gekleidet und ausgehend von seinem Gesicht einen Tick zu gesund, um ein Obdachloser zu sein, doch warum sollte ein dünner Kerl in einem Anzug, und sei es ein schlecht sitzender, zur Mittagszeit hier auflaufen? »Was habt ihr alle zur Mittagszeit hier verloren?«, würde er am liebsten schreien, als er die zigste Frau im glänzenden Trainingsoutfit sieht, deren Schmuck – und zwar nur der an einem Handgelenk – wahrscheinlich teurer war als das letzte Auto, das er besaß. Im Moment muss er aber nett sein, falls er Zugang zu einem Computer erhalten möchte.

      »Viertelstunde, fünf Dollar«, gibt der Spießer an. »Keine verfänglichen Seiten.«

      Zilch überlegt. »Ich krieg's nicht zufällig auf Rechnung?«

      Der Kerl schüttelt mit geschlossenen Augen den Kopf.