Kapitel 6
Als Galavance ihre Karte durch die Stechuhr gezogen hat und eintritt, sieht sie, dass Patty eingetroffen ist und offensichtlich schon eine Weile wartet. Sie durchstöbert die Küche gründlich, indem sie Schubladen öffnet, den Bestand vom Inhalt der Selbstbedienungskühlschränke aufnimmt, Verfallsdaten überprüft sowie Deckel von Tupperware-Behältern anhebt und schnuppert. Sie sieht ein wenig wie ein Hobbit aus, klein und rothaarig mit Sommersprossen. Ihre Miene hat immerzu etwas Geringschätziges, und ihr Südstaatenakzent ist so ausgeprägt, dass er fast nach einer schlechten Parodie klingt. Zudem hat sie mit ebendiesem ländlich geprägten Organ wirklich ständig etwas Schlechtes über ihre Untergebenen zu sagen, egal für was für eine gute Arbeitskraft man selbst sich hält. Für Galavance ist das allerdings weitgehend belanglos, denn sie lässt in Pattys Augen von jeher stark zu wünschen übrig.
Sie rechnet mit dem Schlimmsten und bekommt es auch nach wenigen Sekunden, als sie versucht, sich nonchalant unter die Küchenbelegschaft zu mischen, die Patty bei ihrer Tour beobachtet. Kleine Äuglein blicken rasch auf. Sehen Galavance. Die Regionalleiterin müht sich beim Aufrichten, nachdem sie vor einem der Kühlschränke in die Hocke gegangen ist, stellt einen Plastikeimer mit vorgeschnittenem Salat beiseite – unnötig laut – und sagt so pikiert, wie man nur klingen kann: »Ms. Petersen. Wie ungeheuer nett von Ihnen, sich an diesem wunderbaren Morgen zu uns zu gesellen.«
Erwischt.
»Tut mir leid, auf meinem Weg zur Arbeit ging es ziemlich drunter und drüber.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwidert Patty und bezieht sich auf die zierliche Armbanduhr, die im Speck ihres sommersprossigen Handgelenks unterzugehen droht. »Denn wenn ich mir die Zeit anschaue, stelle ich fest, dass es in ein paar Minuten gar nicht mehr Morgen ist.«
»Es tut mir wirklich leid«, wiederholt Galavance. Alle Blicke ruhen auf ihr. Die Mexikaner, die wahrscheinlich kein Wort von dem verstehen, was gesagt wird, starren auf ihre Füße. Die Bedienungen – Galavances Mädchen –, von denen niemand älter als einundzwanzig ist und die alle aufgedonnert sind, als würden sie ihren Job mit einem Schönheitswettbewerb verwechseln (O-Ton Patty), beobachten, wie die üblicherweise goldbraunen Wangen ihrer Vorgesetzten feuerrot werden. »Ich hatte einen Unfall und konnte nicht so schnell weiter, weil ich alles mit dem anderen Beteiligten klären musste, also … ja.«
Obgleich Patty gerade im Begriff ist, ihr einen zweiten Darmausgang aufzureißen, kommt Galavance nicht umhin, sich die Frage zu stellen, weshalb zur Hölle Zilch wissen wollte, ob Jolby ihr seine Zunge zwischen die Beine drückt. Pass aber besser auf, wenn du abgewatscht wirst. Alles andere wäre unhöflich.
Die Regionalleiterin scheint ihre Gedanken zu ordnen, denn ihr halsloser Kantenkopf geht zwischen den Schultern auf und nieder. Sie grübelt, und als sie weiterspricht, hören sich ihre Worte vorab zurechtgelegt an. Sind sie vermutlich auch, Motivationssteigerung Marke »Friss oder stirb«. Sobald sie tief Luft holt, macht sich Galavance auf etwas gefasst.
»Zu Beginn seiner Tätigkeit 1978 im französischen Limoges war Francois ›Frenchy‹ Burdeoix ein Pionier auf seinem Feld, Ms. Petersen. Er hegte den Traum, die amerikanische Küche auf den Kopf zu stellen und in die Postmoderne zu überführen – Kultur einkehren zu lassen, die es noch nicht gab. Den Cheeseburger zu Fromage sur la viande aufzuwerten. Und glauben Sie, dass dieser Fromage sur la viande oder irgendein anderes Gericht auf unserer üppigen, erlesenen Speisekarte weltberühmt wurde, weil Frenchy außerstande war, sein Privatleben von seinem Beruf zu trennen, und sich deshalb jeden Tag verspätete?«
»Nein, Ma'am.«
Patty quittiert dies mit qualvollem Schweigen, das mehrere Sekunden andauert, bevor sie wieder etwas sagt, während Galavances Kolleginnen und Kollegen mitleidig zuschauen. Als die Frau dem Anschein nach zufrieden ist, dreht sie ihren verhutzelten Körper so, dass sich alle im Raum angesprochen fühlen müssen. Ihr türkisblaues Anzugkleid ist vor Stärke dermaßen steif, dass es knackt, wenn sie sich bewegt.
»Erlauben Sie sich das nie wieder, Ms. Petersen.« Galavance unterbricht ihren Blickkontakt mit Patty nicht, solange sie sich äußert, obwohl es beinahe wehtut. »Falls doch, sehe ich kommen, dass Ihr Arbeitsverhältnis mit Big Fat Frenchy's überdacht werden muss. Haben Sie mich verstanden, Mädchen?«
»Ja.«
»Also gut, nun da das alles klargestellt wurde«, fährt die Leiterin fort und kündigt in die Hände klatschend an, dass sie nun einen anderen Ton anschlägt, während sie sich wieder dem Rest des Personals zukehrt. »Was muss ich noch erledigen, bevor ich wieder fahre? Sie alle haben Ihre Leistungsberichte erhalten – ich hoffe schwer, Sie nehmen sie mit nach Hause und gehen deswegen hart mit sich selbst ins Gericht, denn keiner war es wert, an einen Kühlschrank gehängt zu werden. Das ist jedenfalls abgehakt, aber wo war ich noch nicht?«
Jesus, der Chefkoch, merkt verschüchtert auf: »Im Kühlhaus?«
»Prima, Che-suus! Sehr gut. Ja, lassen Sie uns das noch tun. Kommen Sie, alle Mann und Frau. Mal sehen, wie viele abgelaufene Haltbarkeitsdaten wir da drin finden. Sie aber nicht, Ms. Petersen.« Eine vorgehaltene Handinnenfläche hindert Galavance daran, mit den anderen zu gehen. »Ich würde sagen, Sie haben ein paar Salz- und Pfefferstreuer an den Tischen zu füllen.« Patty schaut wieder auf die Uhr. »Immerhin öffnen wir in einer halben Stunde.«
»Jawohl, Ma'am.« Galavance fügt sich nickend mit fast piepsend leiser Stimme.
Während sie die beiden Behälter mit koscherem Salz und gemahlenem Schwarzpfeffer, die so groß sind wie Farbeimer, ins Lokal trägt, dankt sie Gott dafür, dass sie kein Medium ist, das Dinge per Geisteskraft bewegen kann. Andernfalls würde sie Patty nämlich alle Glieder abreißen und wieder anheften, bloß nicht dort, wo sie hingehören. Dabei drängt sich ihr das Bild von gebratenem Truthahn zum Erntedankfest auf. Es bringt sie zum Lächeln – Patty, gestopft mit Teilen ihres eigenen Körpers. Dieser kleine Mund, für immer zum Schweigen gebracht.
Igitt. Ich werde abartig, wenn ich einen Kater habe.
Sie steht an Tisch vier und kippt Pfeffer überallhin, bloß nicht in den Streuer, als ihr Handy läutet. Während sie sich so aufstellt, dass man von der Küche aus nicht sieht, was sie tut, denn Patty könnte ja vom Kühlhaus hereingestürmt kommen, nimmt sie das Telefon heraus.
Es ist eine SMS von Jolby.
»Brauche Kaution. Wurde mit Beutel Gras erwischt.«
Kapitel 7
Nachdem er den blasigen Streifen Asphalt überquert und sich durch die Haupteingangstür des Einkaufszentrums gedrängelt hat, bleibt Zilch erst mal verwundert stehen. Erstens die Klimaanlage. Er fühlt sich wie vom Yeti geküsst, nachdem er aus einem Topf mit siedendem Wasser gestiegen ist. Wie das ist, glaubt er, aus eigener Erfahrung zu wissen. Dann folgen sofort die Gerüche. Oh, wie herrlich sie aus dem Gastronomiebereich herüberwehen.
Sein Riechorgan ist recht anspruchslos geworden und weiß deshalb alles zu schätzen, das nicht riecht wie der Gestank des Highways, der kalte Zigarettenrauch in Galavances Auto oder der Mief draußen, aber das hier ist mehr als nur wunderbar. Es erreicht ein neues Niveau des Außergewöhnlichen. Schließlich duftet, strömt es pulsierend aus dem Obergeschoss und findet ihn im Parterre, wo er genau am gegenüberliegenden Ende eingetreten ist. Während er hinaufgeht, kann er nicht sicher bestimmen, ob er es sich einbildet oder tatsächlich von Duftengeln des Himmels geführt wird, die sich von den Lokalen aus zärtlich in seine Nasenlöcher gehakt haben, sodass er wie in Trance, während nur seine Zehenspitzen den Boden streifen, getragen wird, die Treppe hinauf und durch den höhlenartigen Flur. Mag es bloß ein Hirngespinst sein? Ehrlich, ist mir egal. Er lässt es einfach mit sich machen. Vergisst kurzzeitig, dass er untot ist, kümmert sich nicht mehr darum, irgendwo für zehn Minuten eine Internetverbindung in Anspruch nehmen zu müssen,