Franz Ferdinand. Alma Hannig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alma Hannig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783902862792
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möglich, wenn vergleichbare Tagebücher anderer Reisender und die dokumentierten Einstellungen des Thronfolgers vor und nach der unternommenen Reise miteinander verglichen würden. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Erkenntnisse auf politischem, verfassungsrechtlichem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, die er durch die Besichtigungen und die Beschäftigung mit unterschiedlichen Ländern und Kulturen gewann, von kaum zu unterschätzender Bedeutung waren. Winiwarter war nach Auswertung der Tagebücher davon überzeugt, dass diese die »intellektuelle Urteilsfähigkeit und Fähigkeit zur eigenständigen Wahrnehmung« des Erzherzogs beweisen und die »Weltreise künftig als Angelpunkt in der Biografie Franz Ferdinands zu werten sein wird«.93 Nicht zuletzt kann die Reise als ein »erster Schritt zur Emanzipation«94 betrachtet werden.

      Zwei Eigenschaften – sie Leidenschaften zu nennen, wäre fast zu wenig gesagt – des Thronfolgers spielten während der Weltreise und somit auch in den Tagebüchern eine große Rolle: die Jagd und das Sammeln. Da sie einen wichtigen Teil auch seiner späteren Freizeit- und Lebensgestaltung ausmachten, erscheint an dieser Stelle ein Exkurs angebracht.

       Exkurs: Jäger und Sammler

      Kaum eine Seite der Persönlichkeit des Erzherzogs Franz Ferdinand eignet sich so für emotionale Debatten wie seine Jagdleidenschaft. Für manche war der Thronfolger »ein außergewöhnlich leidenschaftlicher Jäger«95, für andere trug diese Leidenschaft eher pathologische Züge.96

      Franz Ferdinand hielt sich sehr gern in der Natur auf und beobachtete die Tier- und Pflanzenwelt. Er verbrachte jede freie Minute im Freien, laut Schusslisten allein wegen der Jagd ungefähr 200 Tage im Jahr. Er besaß eine sehr umfangreiche Jagdbibliothek (mehrere Tausend Bände), zahlreiche Gemälde und Kupferstiche mit Jagdmotiven, alte Jagdwaffen und eine sehr große Sammlung an Jagdtrophäen aus der ganzen Welt, die sorgfältig präpariert in seinen Schlössern – allen voran in Konopischt – ausgestellt wurden.

      Sein erstes Wild erlegte Franz Ferdinand mit neun Jahren, wozu ihm sein 14-jähriger Cousin, Kronprinz Rudolf, herzlich gratulierte.97 Als Jugendlicher schrieb der Erzherzog voller Begeisterung lange Berichte über seine Jagderlebnisse. Von Anfang an führte er auch Jagdtagebücher, sodass die Anzahl der erlegten Tiere ziemlich genau angegeben werden kann: Es waren 274 889! Diese unglaublich hohe Zahl – rein statistisch hat er fast 15 Tiere pro Tag erlegt, sein Rekord an einem Tag sollen 1200 Tiere, in einem Jahr 18 799 gewesen sein – konnte er nur deshalb erreichen, weil er ein sehr guter Schütze war.98 Die theoretische Ausbildung, aber auch das konsequente Training (in Konopischt gab es einen äußerst schön gestalteten Schießübungsplatz) ermöglichten ihm eine extrem hohe Treffsicherheit. Bei Treibjagden führte dies dazu, dass er so gut wie alle Tiere, die ihm vor die Flinte liefen, traf.

      Während seiner Weltreise stellte er diese Treffsicherheit in einem Wettbewerb mit dem besten Schützen Indiens, dem Nisam (Maharadscha) von Hyderabad, unter Beweis. Man schoss auf kleine Tonkugeln, Flaschen und schließlich auf in die Luft geworfene Münzen und der Erzherzog, obwohl er dies nie zuvor gemacht hatte, gewann.99 Eine weitere Geschichte wird in diesem Zusammenhang gern tradiert, bei der die Jagdleidenschaft vielmehr als Schießleidenschaft interpretiert werden kann: Während seiner Krankheit soll der Erzherzog (wohl mangels sinnvoller Beschäftigung) von einer Liege aus einen in der Nähe stehenden Baum durch gezielte Pistolenschüsse perfekt zurechtgestutzt haben.100 Infolge des ständigen Schießens hörte der Thronfolger bereits als junger Mann schlecht.101

      Die Jagd wurde später auch in das Familienleben des Erzherzogs integriert: Seine Frau und seine Kinder haben ihn bei zahlreichen Jagden begleitet, was anhand der Notizhefte, Fotografien und mancher Trophäen mit der Kennzeichnung »SSME« (Anfangsbuchstaben der Vornamen) nachvollzogen werden kann.

      Zu den Legenden, die sich um das Leben bzw. den Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand ranken, gehört auch die Tatsache, dass er bei einer Jagd einen Albino erlegt hatte, was damals als Zeichen für einen gewaltsamen Tod des Schützen interpretiert wurde. Der Thronfolger berichtete Gräfin Marie Thun, dass er »einen schneeweißen Rehbock mit hellblauen Lichtern« erlegt hatte, und fügte humorvoll hinzu, dass wenn ihn tatsächlich das vorhergesagte Schicksal ereilen sollte, dies hoffentlich erst nach ihrem nächsten Treffen geschehen werde.102 Seit Juni 1914 wurde die Albino-Geschichte nicht nur in Jägerkreisen gern erzählt.

      Auch die Zahl der von Franz Joseph oder Kaiserin Elisabeth erlegten Tiere war beträchtlich. Aber während man diese als vorbildliche Jäger betrachtete, war das Verhalten des Thronfolgers umstritten. Er hatte den Ruf, möglichst viele Tiere erlegen zu wollen und wenig Respekt für diejenigen zu zeigen, die unter besonderem Schutz standen. In einem Jahr hatte er in Konopischt so viele Fasanhähne geschossen, dass »ungezählte Hennen als trauernde Witwen«103 herumliefen und der Bestand sich nur langsam regenerierte. Prinz Philipp Eulenburg, deutscher Botschafter in Wien, drückte es in einem Privatbrief an seinen kaiserlichen Freund Wilhelm II. überspitzt aus: »Massentötungen liebt ja der hohe Herr über alles, und die Jagd spielt in diesem Leben eine große Rolle.«104 Liest man Franz Ferdinands Tagebücher von der Weltreise, gewinnt man durchaus den Eindruck, dass sich seine Jagdleidenschaft in der Tat mitunter »in eine Art Blutrausch«105 verwandeln konnte.

      Er erlegte während der Reise zahlreiche Tiger, Elefanten, Krokodile, Kängurus, aber auch Emus, Paradiesvögel, Koalas, Faultiere, Stinktiere und unzählige Vögel oder Fische, auf die er zum Teil schoss oder sogar versuchte, sie mit Dynamit zu »fangen«.106 Er erfreute sich an jeder neuen Tierart, die er entdeckte, und er jubelte, wenn er sie in seine Schussliste aufnehmen konnte. Dass die erlegten Weibchen oft noch Junge im Bauch hatten, nahm er mit ausgesprochener Gleichgültigkeit zur Kenntnis.107 Erzherzog Franz Ferdinand empfahl dem Leser auch eine eigene Erfindung, die »heitere Eisenbahnpürsche«108, bei der er während der Bahnfahrt auf sitzendes, liegendes oder flüchtendes Wild schoss.

      Die Faszination für außergewöhnliche Tiere führte während der Reise immer wieder zur Tötung von Tieren, einfach um diese näher betrachten zu können. Als Franz Ferdinand beispielsweise eine große Eidechse entdeckte, die ihn und seine Begleiter mit ihren »kleinen Äuglein [anblinzelte] und sich nicht von der Stelle [rührte]«109, berieten sie sich sofort, wie sie das Tier töten sollten. Sein britischer Begleiter Pirie schlug schließlich auf den Kopf der Eidechse mit einem Ast ein, bis er dem Tier die Schädeldecke zertrümmert hatte und es elend verendete. Nachdem Franz Ferdinand sich das »merkwürdige Tier« etwas genauer angeschaut und die Decke mit einem Messer durchtrennt hatte, ließ er es liegen und ging zum Frühstück.

      Sicherlich sind solche Beschreibungen der brutalsten und sinnlosesten Form der Jagd für den heutigen Leser erschreckend und abstoßend, sodass man dazu geneigt ist, dieses Verhalten als krankhaft und pervers zu bezeichnen.110 Makaber klingt es, wenn der Erzherzog sein Jagdgewehr liebevoll »meine treue Freundin«111 nennt. Allerdings müssen der Zeitgeist, die Bräuche bestimmter Länder und das Verhalten vergleichbarer Personen berücksichtigt werden, um ein möglichst objektives Urteil zu treffen.

      Die Jagd gehörte zum allgemeinen Lebensstil des Adels und bildete einen zentralen, vergnüglichen Rahmen der meisten Treffen. Es gab zahlreiche offizielle, gesellschaftlich und politisch wichtige Jagden im Jahr, an denen der europäische Adel teilnahm. Insbesondere die großen Treibjagden, die beispielsweise Max Egon zu Fürstenberg in Donaueschingen, Christian Kraft zu Hohenlohe-Öhringen oder Hans-Heinrich Fürst zu Pless organisierten, erfreuten sich der größten Beliebtheit unter dem Hochadel.112 Der Thronfolger äußerte sich durchaus kritisch über einige Treibjagden, wenn auch aus anderen Beweggründen: Nicht selten hätten mehrere Jäger dieselben Tiere anvisiert und auf sie geschossen. Daraus ergab sich eine »furchtbare Rauferei auf Leben und Tod um die einzelnen Stücke«.113 Die anschließende Untersuchung der Ein- und Ausschüsse, der Vergleich der benutzten Kaliber, um den eigentlichen Schützen zu identifizieren, dauerte ihm zu lang. Geht man die Schusslisten von solchen Jagden durch, stellt man fest, dass Franz Ferdinand zwar durch seine hohe Treffsicherheit immer weit oben rangiert, aber in seiner Jagdpassion keineswegs einer der Wenigen war. Der