Franz Ferdinand. Alma Hannig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alma Hannig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783902862792
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das »verhaßte Deutsch« nur mit ungarischem Akzent, er schreie den ganzen Tag »éljen Tisza, eljén Apponyi, éljen Istoczy«50, esse nur »Speck und Paprika« und habe seine Möbel »durchgehend rot, weiß und grün überziehen lassen«. Abfällig schrieb er, dass er sich außerdem »eine ordentliche Portion Läuse« angeschafft habe, »um auch diese tiefempfundende Charaktereigenschaft dieser Nation nachzuahmen«.51 Ansonsten laufe er in seiner freien Zeit »wie ein brüllender Löwe« herum und suche, wo er »einen Cisleithanier verschlingen kann«.52

      Als sich gesundheitliche Probleme bemerkbar machten, bekam Franz Ferdinand einen mehrwöchigen Urlaub genehmigt. Er nutzte die Gelegenheit, um nun den Kaiser zu ersuchen, ihm die lang ersehnte Weltreise zu genehmigen. Nach Interventionen vonseiten Carl Ludwigs und der Kaiserin Elisabeth erhielt Franz Ferdinand die Erlaubnis, Mitte Dezember 1892 seine Weltreise anzutreten.53

      2.1 Weltreise

      Ausgedehnte Reisen ins Ausland waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil des adeligen Lebens. Solche »Adelsreisen« sind jedoch in ihrer Art nicht mehr als Kavaliers- oder Bildungsreisen (auch Grand Tour genannt) der vorangehenden Jahrhunderte zu verstehen, als die jungen Adeligen auf jahrelangen Reisen durch Europa an verschiedenen Universitäten studierten und Kenntnisse in Zivil- und Militärwissenschaften erwarben, die sie für eine Karriere als Diplomaten, Militärs oder in der Verwaltung qualifizieren sollten. Solche Erziehungs- und Lehrreisen wurden aufgrund des Wandels des Bildungsideals sowie des Ausbaus und der Verbesserung der eigenen Universitäten Ende des 18. Jahrhunderts aufgegeben.54 Seitdem studierten viele Adelige, darunter auch Prinzen der regierenden Häuser, an den heimatlichen Universitäten oder an unterschiedlichen Bildungsanstalten. Dadurch hatte sich der Zweck der adeligen Reisen geändert: Nicht der Erwerb sozialen und fachlichen Wissens stand im Vordergrund, sondern die touristischen Elemente. Italien- und Orientreisen entwickelten sich zu einem Massenphänomen, an dem immer mehr Bürgerliche teilnahmen. Besichtigung von historischen Monumenten, das Bestaunen von Naturlandschaften und der Folklore der fremden Regionen gehörten zu diesem »erinnerungsgesättigten Tourismus«55 ebenso wie der Kauf von Souvenirs und Andenken. Solche Vergnügungsreisen absolvierten die meisten Mitglieder der Familie Habsburg, zumeist noch in ihren jungen Jahren. Auch Franz Ferdinand war bereits in Italien sowie in Ägypten, Syrien, Palästina und Griechenland gewesen. Diese Reise wurde in erster Linie als »eine Jagdpartie und ein großer Spaß« verstanden.56

      Die von ihm 1892/93 absolvierte Weltreise fällt jedoch nicht in diese Kategorie, sondern könnte vielmehr als eine Kombination aus einer klassischen »Kavaliersreise« und einer Vergnügungsreise des späten 19. Jahrhunderts bezeichnet werden.57 Erzherzog Franz Ferdinand bereiste fast ein Jahr lang verschiedene Kontinente und beschäftigte sich dabei unter anderem mit den Bildungs-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sozialsystemen der besuchten Länder.58 Kein anderer Thronfolger in Europa hat eine vergleichbare Reise in dieser Zeit unternommen, und man kann mit Sicherheit behaupten, dass sie den Bildungs- und Erfahrungshorizont des damals 30-jährigen Thronfolgers enorm erweitert hat.59

      Es hatte mehrerer Interventionen beim Kaiser bedurft, bis die Weltreise dem Erzherzog tatsächlich genehmigt und die Gelder zur Verfügung gestellt wurden.60 Den ersten Teil der Reise absolvierte er mit einer 15-köpfigen Reisegesellschaft und etwa 400 Mann (multinationaler) Besatzung auf dem neuesten Kreuzer der k. u. k. Kriegsmarine, der Kaiserin Elisabeth. Für die Weiterfahrt von Japan nach Amerika stieg er auf einen kanadischen Liniendampfer um und in Amerika selbst reiste er mit der Eisenbahn oder auf den Dampferschiffen. Franz Ferdinand besuchte unter anderem Indien, Singapur, Java, Australien, China, Japan, Kanada und die USA und legte insgesamt fast 33 000 km zurück.61 Offiziell wurde die Reise als wissenschaftliche Expedition deklariert. Zu der Reisegesellschaft gehörten Leo Graf Wurmbrand (Franz Ferdinands Kammervorsteher) sowie Heinrich Graf Clam-Martinic und Julius von Prónay als Kämmerer. Zeitweise waren außerdem Legationssekretär Karl Graf Kinsky (Kämmerer), Generalkonsul Franz Stockinger, Anton Sanchez de la Cerda und der Kustos des Naturhistorischen Museums, Dr. Ludwig Lorenz Ritter von Liburnau, anwesend. Ein »Taxidermator« (Tierpräparator) begleitete Franz Ferdinand während der gesamten Reise: der spätere Hoffotograf Eduard Hodek; ebenso der Leibjäger Franz Janaczek sowie mehrere Diener und Köche.62 Unter den Besatzungsoffizieren befand sich ein weiterer Erzherzog aus der Linie Toskana, Leopold Ferdinand, der wegen verschiedener Differenzen mit dem Thronfolger das Schiff vorzeitig verlassen musste.63 Laut Franz Ferdinand sollte die Reise auf einem Kriegsschiff mit Torpedovorrichtungen einerseits der Besatzung die Gelegenheit bieten, sich auf der abwechslungsreichen Route maritim und wissenschaftlich weiterzubilden, andererseits sollte sie zur Hebung der militärischen und handelspolitischen Machtstellung der Monarchie im Ausland beitragen.64

      Die Erlebnisse dieser Reise hielt der Erzherzog recht genau in seinen Aufzeichnungen fest, die als Grundlage für die publizierte Fassung seines Tagebuches dienten. Dieses zweibändige Werk war ursprünglich für Freunde und Familie gedacht. Erst nach einigem Zureden seiner Freunde wurde es vonseiten des Thronfolgers für die Öffentlichkeit freigegeben.65 Einige Zeitgenossen zweifelten an der Autorenschaft des Erzherzogs, aber bereits Ende der 1920er-Jahre stellte Franz Ferdinands Biograf Theodor von Sosnosky fest, dass es unverkennbar geistiges Eigentum des Thronfolgers war, mit zahlreichen für ihn typischen Eigenarten.66 Im Archiv von Schloss Artstetten sind die Originalaufzeichnungen zu finden, anhand derer sich rasch beweisen lässt, dass Franz Ferdinand die Tagebücher selbst verfasst hat und diese von seinem ehemaligen Lehrer Beck lediglich sprachlich korrigiert wurden.67 Der Thronfolger schrieb im Zug, auf dem Schiff, aber auch während der Jagd, wenn die Wartezeiten auf dem Jagdstand überbrückt werden sollten. Die gedruckte Version wurde während seiner Krankheit 1894/95 in der Abgeschiedenheit Merans und anderer Kurorte abgeschlossen.68

      Angesichts der aufwendigen Ausführung und des hohen Verkaufspreises ist davon auszugehen, dass das Tagebuch nie eine breite Öffentlichkeit erreicht hat. Diese wurde vielmehr bereits während der Reise des Erzherzogs regelmäßig durch die Neue Freie Presse und andere Zeitungen informiert.69 Die Abreise am 15. Dezember 1892 wurde von den Journalisten als eine »erhebende Feier« beschrieben, bei der sich nicht nur die Familie des Erzherzogs eingefunden hatte, sondern auch Tausende Schaulustige, die nicht zuletzt den »majestätische[n] Bau« der Elisabeth bewundern wollten. Franz Ferdinand und seine Familie wurden mit »begeisterten, sich stets erneuernden Hoch- und Evviva-Rufen und von den Damen mit Tücherschwenken begrüßt, während die Musikcapellen auf den Dampfern die Volkshymne intonirten. […] Unter erneuten Ovationen des Publicums und nachdem die erzherzogliche Familie und Erzherzog Franz Ferdinand die letzten Grüße durch Händewinken ausgetauscht hatten, entschwand die Kaiserin Elisabeth den Blicken.«70

      Neben der allgemeinen Reiselust nannte der Erzherzog weitere Gründe für seine Entscheidung, eine Weltreise mitmachen zu wollen, im Vorwort des Tagebuches: »Was mich hiezu bewogen hat, ist das Streben gewesen: aus der persönlichen Anschauung anderer Erdtheile, aus dem Einblick in fremde Staatsgebilde und Gemeinwesen, aus der Berührung mit fremden Völkern und Menschen, mit ausländischer Cultur und Sitte Belehrung zu gewinnen; aus der Besichtigung wundersamer Werke der Kunst, aus der Betrachtung fremdartiger Natur und ihrer unerschöpflichen Reize Genuss zu schöpfen.«71

      Das Tagebuch des Thronfolgers enthält viele botanische und zoologische Beobachtungen sowie unzählige, zum Teil äußerst brutale Jagderlebnisse. Die für den heutigen Leser interessantesten Passagen beschäftigen sich mit den politischen Systemen, der sozialen und wirtschaftlichen Lage und den kulturellen Besonderheiten der bereisten Länder. Grob betrachtet, folgen die meisten Einträge einem relativ einfachen Muster: Am Anfang steht in der Regel die Beschreibung der politischen, religiösen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen des jeweiligen Gebietes. Daran schließen sich die Schilderungen des absolvierten Programms (zumeist Jagden, Ausflüge in die Natur, Besichtigung der Sehenswürdigkeiten, offizielle staatsbesuchsähnliche Empfänge) an. Manchmal befasste sich der Erzherzog mit der Architektur und der Infrastruktur einzelner Städte und zuweilen hielt er die physiognomischen Besonderheiten der einheimischen