Fritz Wunderlich privat: Auch das war eine Rolle, die er neu lernen und die sich einspielen mußte. Erst noch hatte er seiner Lehrerin geklagt, daß er alles, die kleinen Sorgen und die großen Ängste, stets mit sich allein abmachen müsse und ihn die Angst, daß er dem allem gar nicht standhalte, immer von neuem wieder überfalle. Er, der das Alleinsein nie ertragen konnte, wußte nun, daß zu Hause ein Mensch war, der ihm unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte und Anteil nahm an seiner Arbeit, an seinen beruflichen Nöten und Selbstzweifeln. Allerdings erzählte er zu Hause nur recht selten von der Oper – die Arbeit, sosehr sie seine Welt war, sollte zu Hause nicht eine vorrangige Rolle spielen. Auch ein stundenlanges Einsingen im Musikzimmer, wie das andere Sänger vor einer Vorstellung zu praktizieren pflegen, lag ihm fern. Entweder sei die Stimme da oder nicht, sagte er stets, und das merke er schon am Morgen, wenn er aufstehe. Überhaupt dachte er zu Hause möglichst wenig ans Singen. Was nicht heißt, daß er im Familienkreis kaum gesungen und also Musik in seinem Privatleben keine Rolle gespielt hätte. Ganz im Gegenteil: Oft spielte er Horn – am liebsten Mozarts Hornkonzerte, wobei ihn seine Frau am Flügel begleitete. Wenn er zu Hause sang, dann waren es nie jene Partien, die ihn zur Zeit gerade auf der Bühne beschäftigten. Viel lieber probierte er ganz andere Musik aus: Arien aus Tosca und Turandot beispielsweise oder sogar Baßarien. Seine liebste Arie im Don Giovanni sei Leporellos »Register-Arie«, hat er wiederholt beteuert; und auch die große Christus-Szene »Nehmet, esset, das ist mein Leib« aus der Matthäus-Passion sowie das Baßrezitativ »Am Abend, da es kühle war« sang er oft und gerne, nicht ohne herzlich zu bedauern, daß Bach diese Musik nicht für den Evangelisten oder den Tenorsolisten – also für ihn – geschrieben habe.
Gerne lud er auch seine Kollegen ein, Hubert Buchta, Gustav Neidlinger oder Hans Günter Nöcker, in späteren Jahren auch Gottlob Frick, wesentlich ältere Kollegen zumeist; und von ihnen wollte er lernen. Oft war auch Margarethe von Winterfeldt zu Gast. Vor wichtigen Aufführungen holte Fritz Wunderlich nach Möglichkeit Rat bei ihr. Nicht, daß er abhängig von ihr gewesen wäre. Aber er spürte, daß sie sich nach wie vor für seine sängerische Entwicklung interessierte, zumal er jetzt, als Opernsänger, Erfahrungen machte, die ihr selber, der Konzertsängerin, versagt geblieben waren. Immer noch bewährten sich ihr phänomenales Gehör und ihr sicheres Gespür für die Stimme. Und stets sorgte sie sich, ob bei den unglaublichen Anforderungen, denen Wunderlich an der Oper ausgesetzt war, auch alles rund laufe, ob sich die Stimme ohne Verkrampfungen weiterentwickeln könne. Denn Gefahren lauerten überall, vor allem bei der zeitgenössischen Musik mit ihren ganz besonderen Anforderungen an die Stimme. Wunderlich, das fällt auf, hat damals schon überraschend viel zeitgenössische Musik gesungen. Opern vor allem, aber auch Oratorien und kleinere Kantaten. »Nicht immer hat er das gerne gemacht«, betonte Ferdinand Leitner später, »aber ich habe ihn damit besetzt, weil er so musikalisch war und gesangstechnisch so sicher. Ich wußte, daß ihm da nichts passieren konnte. Und er lernte unwahrscheinlich schnell, die komplizierteste Musik – ein richtiges Urviech. Er kannte keinerlei Schwierigkeiten, und ich habe es nie erlebt, daß er einmal gekommen wäre und gesagt hätte: ›Ich brauche da mehr Zeit zum Lernen.‹«[115]
Oft kamen auch andere Bekannte aus den Freiburger Studienjahren nach Stuttgart. Vor allem Klaus Hertel und Katharina von Mikulicz, Wunderlichs engste Freunde. »Einmal waren wir zusammen mit der Winterfeldt bei Fritz in seiner kleinen Dachwohnung im schwiegerelterlichen Haus«, erzählte Hertel. »Abends mußte Fritz in der Entführung singen, und die Winterfeldt arbeitete am Nachmittag noch mit ihm. Da war eine hochgelegene Phrase, und mir fiel auf, daß er sich die leichter machte, indem er statt des unterlegten Textes einfach a-a-a sang. Mir gefiel das natürlich nicht: ›Du Fritz‹, sagte ich, ›ich finde das unmöglich, das hast du doch nicht nötig.‹ Da fuhr mich die Winterfeldt an: ›Was erlaubst du dir eigentlich! Wie kannst du ihm zwei Stunden vor der Aufführung so was überhaupt sagen!‹ Vielleicht hatte sie recht; auf keinen Fall wollte sie, daß Fritz jetzt noch verunsichert werde. Am Abend in der Vorstellung – wir saßen alle drin – sang er diese Phrase dann prompt mit dem richtigen Text. Indirekt hat er seiner Lehrerin damit vielleicht auch zeigen wollen, daß er auf ihre Ratschläge nicht in jedem Fall mehr angewiesen war.«[116] Ebenfalls zu diesem Bekanntenkreis aus den Freiburger Jahren zählte der Pianist Kurt-Heinz Stolze. Auch er war an der Stuttgarter Oper engagiert, zuerst als Korrepetitor und Übungsmeister, später als Kapellmeister, vorwiegend fürs Ballett.[117] Oft hatte er Studierende in der Meisterklasse Margarethe von Winterfeldts begleitet und sie beim Rollenstudium angeleitet. Mit ihm studierte Fritz die ersten Liedprogramme ein: Schuberts Schöne Müllerin sowie Gesänge von Brahms, Richard Strauss und Hugo Wolf. Und er war stets von neuem fasziniert, wie Stolze alles ganz nach Belieben transponieren konnte, einen halben Ton oder gleich mehrere Töne, hinauf oder hinunter, und alles selbstverständlich vom Blatt.
Doch wie gesagt: Musik, der Sänger- und Opernberuf waren für Wunderlich zu Hause kaum ein Thema. Viel lieber bastelte er, zum Beispiel an seiner Modelleisenbahn, die er sich – ein langgehegter Kinderwunsch – als frischgebackener Ehemann zum ersten Weihnachtsfest gekauft hatte. Oft war er auch unterwegs, fuhr er mit seinem Volkswagen nach Kusel zu seiner Mutter. Damals eine recht mühsame Sache, denn die Straßen waren über weite Strecken immer noch voller Schlaglöcher. Zwei Dinge waren es, die ihn nach wie vor an seine Pfälzer Heimat banden: die Mutter und die Kindheitserinnerungen. Natürlich bestanden noch alte Freundschaften aus der Jugendzeit, und auch die Schwester lebte mit ihrer Familie nach wie vor in Kusel. Oft spielte Wunderlich mit den ehemaligen Kumpels Skat oder Schach, manchmal bis in die frühen Morgenstunden. Daß das der Mutter nicht sonderlich paßte, liegt auf der Hand, und es fehlte auch nicht an entsprechenden Vorwürfen. Doch die prallten an ihm ab. Bei all seinem Charme und seiner ansteckenden Offenherzigkeit setzte er seinen eigenen Willen unbeirrbar durch. Er war ein dominierender Mensch, auf der Bühne wie auch zu Hause im geselligen Kreis. Und noch etwas fiel auf: daß er alles, was er zu Hause in seiner Freizeit unternahm, mit derselben Intensität anging, die er auch für seinen Beruf mobilisierte. Halbherzigkeiten gab es für ihn keine. Und stets steckte er voller Pläne. Meistens waren es zu viele, als daß sie sich alle hätten realisieren lassen. Beispielsweise versprach er einigen Kollegen, sie am freien Wochenende zu besuchen, und sie stellten sich entsprechend darauf ein. Den ersten besuchte er dann auch, doch es wurde regelmäßig später als vorgesehen, und beim zweiten nochmals dasselbe – so daß er zum letzten gar nicht mehr kam. Das gab Ärger und führte zu Enttäuschungen. Enttäuschungen, die manch einer kaum mehr verwand.
Und zu Hause? »Natürlich hat sein Beruf unser Leben dominiert. Anders wäre das ja gar nicht möglich gewesen. Aber er hat doch die Familie ungeheuer an seinem Beruf teilnehmen lassen. Es war ihm auch ungeheuer wichtig, daß ich immer mit dabei war und praktisch noch zusätzliche Ohren für ihn mobilisierte. Er legte großen Wert auf meine Meinung. Durch meinen Beruf habe ich doch sehr gut geschulte Ohren, und er meinte manchmal, ich würde wirklich die allerkleinsten Dinge hören.«[118] Harfe spielte Eva Wunderlich allerdings längst nicht mehr, obwohl das ursprünglich nicht so vorgesehen war. Daß es mit zwei Musikern in einem Haushalt Probleme geben würde, weil jeder sein eigenes Revier verteidigen wollte, ließ sich eigentlich voraussagen. Dennoch waren es andere Beweggründe, die schließlich zum Entscheid gegen die Harfe führten. Ein neues Instrument hätte angeschafft werden müssen, und gleichzeitig brauchte Wunderlich einen Flügel. Da das Geld für beides nicht ausreichte, entschloß man sich für das Dringendere, für den Flügel. Nachgetrauert hat Eva Wunderlich der Harfe nicht sonderlich, denn aufgewachsen war sie eigentlich mit der Oper. Früh schon hatte sie ihr Vater in die Proben mitgenommen; später sang sie im Kinderchor mit. Der Oper sollte sie weiterhin verbunden bleiben: jetzt durch den Beruf ihres Gatten.
SIEBTES KAPITEL
Eine neue Opernsaison stand bevor. Seiner Lehrerin hatte Wunderlich berichtet, daß man ihn für drei lyrische Partien vorgesehen habe und daß er nebenher Così fan tutte studiere sowie den David in Wagners Meistersingern.[119] Nebenher