Am 4. Januar 1957 stand Wunderlich wieder einmal vor den Mikrofonen der SWF-Zweigstelle in Kaiserslautern. Anderthalb Jahre waren es her, seit Emmerich Smola die letzten Operettenaufnahmen mit ihm produziert hatte. Diesmal standen vier Duette auf dem Plansoll, die Wunderlich gemeinsam mit der Sopranistin Franzi Wachmann sang, sowie ein Solotitel – alles berühmte Melodien aus Operetten von Jean Gilbert.
»Seltsamer Fall«, schrieb Helmut Schmidt-Garre am 4. Februar 1957 im Münchner Merkur. »Während man bestrebt ist, die Oper dem Oratorium anzunähern, während man in Bayreuth den Schlußakt eines so im Realistischen verankerten Musikdramas wie der Meistersinger weitgehend statisch gibt, versucht man andererseits, das Oratorium zu dramatisieren. Will man die Kunstformen einander annähern, die Grenzen der Gattungen verwischen? Oder entspringen diese Versuche einem Überdruß, einem Mangel an Naivität, der Unfähigkeit zu normalem Kunstgenuß? Bleibt einer Zeit, die nicht mehr in der Lage ist, einen Stil zu bilden, als einziger Ausweg die Flucht in stilistisches Experiment übrig?« In der Tat: Stuttgart wagte ein Experiment. Rolf Badenhausen, der Referent des Generalintendanten, hatte bereits vor einigen Monaten den Übungsmeister Walter Hagen-Groll damit beauftragt, sämtliche Opern und Oratorien von Händel auf ihre Aufführbarkeit hin zu überprüfen. Denn die Händel-Pflege in Deutschland, stilbildend damals von Fritz Lehmann in Göttingen betrieben, beschränkte sich weitgehend auf das oratorische Schaffen. Opern wurden, wenn überhaupt, nur in konzertantem Rahmen aufgeführt – der dramaturgischen Effizienz dieser stilistisch auf die italienische Opera seria zurückgreifenden Bühnenwerke wollte damals kaum einer so richtig trauen. Ein Vierteljahr lang durchstöberte Hagen-Groll sämtliche Händel-Opern und -Oratorien, und zwar in der Staatsbibliothek Stuttgart, wo alle Partituren zur Verfügung standen. »Anschließend mußte ich Badenhausen in einem Referat die wichtigsten Ergebnisse meiner Forschungen vortragen, mußte ihm die Inhalte der Werke referieren und die dramaturgischen Perspektiven erläutern. Aufgrund dieser Analysen entschloß sich die Intendanz, Jephta zur Aufführung zu bringen« – keine Oper, sondern Händels letztes Oratorium, komponiert im Jahr 1751.[127]
Händels letztes Werk überhaupt: Während der Arbeit daran erblindete er. »Biss hierher komen den 13. Febr. 1751«, schrieb er mitten in den großen Chor am Schluß des zweiten Aktes, »verhindert worden wegen des gesichts meines linken auges.« Die Sehkraft des linken Auges hatte nachgelassen. Händel litt, wie übrigens auch Johann Sebastian Bach, am grauen Star, einer damals unheilbaren Augenkrankheit. Ein harter Schicksalsschlag für ihn, der ihn mitten in der Arbeit traf, ausgerechnet bei jenem Chor, der mit den geheimnisvollen Worten beginnt: »How dark, O Lord, are Thy decrees! And hid from mortal sight!« (Wie dunkel, o Herr, sind doch deine Ratschlüsse! Verborgen vor dem sterblichen Blick!) Mühsam nur konnte er diesen Chor in den folgenden Tagen beenden, dann aber mußte er die Partitur volle vier Monate liegenlassen. Erst Ende August schloß Händel das Werk ab – »aetatis 66«, im Alter von 66 Jahren, wie er, gleichsam Bilanz ziehend, am Schluß der Partitur notierte. Danach erblindete er vollständig.
Der Text, die Handlung, ist der Bibel entnommen, dem Buch der Richter. Jephta, Heerführer der Israeliten im Kampf gegen die Ammoniter, gelobt Gott im Falle einer siegreichen Heimkehr, ihm jenen Menschen zu opfern, der ihm aus seiner Haustür zuerst entgegentreten werde. Das Schicksal führt dem siegreich Zurückkehrenden seine eigene Tochter Iphis als erste vor Augen; an ihr hat er nun sein Gelübde zu erfüllen. Der alttestamentarische Chronist schließt seinen Bericht mit den kargen Worten: »Und er tat ihr, wie er gelobt hatte.« Händel und sein Librettist Morell hingegen fügten hier eine Wendung zum Guten ein – eine typisch spätaufklärerische Zutat, wie sie auch in Glucks Reformoper Orpheus und Eurydike und später in Mozarts Idomeneo noch anzutreffen ist: daß ein Engel, ein Gottesbote oder eine Orakelstimme das Ende dieser grausamen Prüfung verkündet. Durch diesen Auftritt des Engels wird der alttestamentarisch gestrenge, unnachgiebige Gott zu einem dem christlichen Ideal entsprechenden, liebenden und nachsichtigen Gott umgedeutet. Somit hat der Engel, obwohl er in Händels Jephta erst am Schluß auftritt, eine zentrale Bedeutung. Händel schrieb die Rolle traditionsgemäß für einen Sopran. Günther Rennert, der Jephta in Stuttgart auf die Bühne brachte, wagte einen weiteren Schritt, indem er aus dem Engel einen Propheten machte, »einen Künder des kommenden neuen Bundes zwischen Gott und den Menschen«, wie er im Programmheft mitteilte. Um dieser Partie noch stärkeres Gewicht zu verleihen, besetzte er sie mit einem Tenor: mit Fritz Wunderlich. »So glauben wir, Händels Umdeutung des Jephta-Geschickes ins Christlich-Neutestamentarische und ihre erhebende sittliche Macht auch szenisch überzeugender darstellen zu können.«
Die Musik der Solopartien in Jephta ist, gemessen an Händels übrigen Werken, für die damalige Zeit modern. In den Chören bewahrte der Komponist jedoch eine altertümliche Sprache, durchaus an die griechische Tragödie gemahnend, was dem Oratorium insgesamt eine eigentümlich feierliche Erhabenheit verleiht. Auf dieser Grundlage baute Rennert seine Inszenierung auf: Alle Darsteller waren von Anfang an auf der Bühne, agierten auf einer runden Spielfläche – eine einheitliche »Symbolbühne«, von Caspar Neher eingerichtet – oder saßen, wenn sie nicht in die Handlung eingriffen, mit dem Rücken zum Publikum im Bühnenvordergrund. Der Chor agierte zweigeteilt: Die eine Hälfte umrahmte die Spielfläche im Halbrund, die andere Hälfte saß, gleichsam als Zuschauer und solcherart das Geschehen kommentierend, auf einer Empore im Bühnenhintergrund. Symbolisches Theater also. Die Verbindung zur antiken Tragödie war evident: Absolute Formen herrschten vor, stilisierte Gesten und große, überhöhte Affekte. Immer wieder erstarrte die Aktion zum kühn gestellten lebenden Bild. Wie gesagt: Es war ein Experiment, und auch ein Wagnis. Entsprechend groß war die innere Spannung der Mitwirkenden bei der Premiere am 2. Februar 1957. »Unvergeßlich ist mir, wie Josef Traxel, der die Titelpartie sang, bei seiner Auftrittsarie plötzlich ausfiel«, erzählte Hans Günter Nöcker, der die Partie des Hamor sang. »Er stand vorn an der Rampe, Leitner gab ihm verzweifelt Einsätze–doch vergeblich. Wir alle auf der Bühne waren wie gelähmt. Und als unmittelbar daran anschließend Res Fischer aufstand und ihrerseits die erste Arie sang, merkte man, wie sie beim Singen buchstäblich zitterte.« Dennoch, Jephta wurde ein spektakulärer Erfolg. »Ich glaube, es war einer der glücklichsten Momente in Rennerts Leben. Weil er überhaupt nie an einen Erfolg geglaubt hatte. Er war völlig überwältigt.«[128] Auch die Kritik reagierte in begeisterten Tönen: »Die Stuttgarter Staatsoper, mutig und glücklich auf vielen Entdeckungsfahrten jenseits der eng gewordenen Repertoiregrenzen, suchte diesmal Neuland auf ganz abseitigen Wegen. Sie führten 200 Jahre zurück und von der Oper weg, und was gefunden wurde, erwies sich als ein Meisterwerk von packender Wirkung und verblüffender Modernität. Ja, Modernität«, resümierte Honolka in den Stuttgarter Nachrichten.[129]
Opernball 1957. Dieses Jahr ließ sich Wunderlich gleich zweimal auf der Bühne feiern. Zusammen mit den Damen und Herren des Stuttgarter Balletts bestritt er Funiculi-Funicula und Granada, zwei seiner italienischen Erfolgsschlager. Und mit sieben seiner Sängerkollegen fand er sich zur Schlußnummer des Programms zusammen, ein »hochpolitisches Finale«, wie es der Programmzettel versprach. Dann kehrte wieder Ernst auf der Stuttgarter Opernbühne ein. Die Wiederaufnahme der oratorischen Oper Oedipus Rex von Igor Strawinsky wurde vorbereitet – ein weiteres Beispiel des statuarischen Musiktheaters mit kühl objektivierten Ausdrucksformen im Sinne eines antikisierenden Klassizismus und darin nahtlos an Rennerts Jephta-Produktion anknüpfend. Im September 1953 war das Werk erstmals in Stuttgart aufgeführt worden, damals unter der Leitung von Generalmusikdirektor Ferdinand Leitner. Nun wurde es, zum Teil in neuer Besetzung, wiederum in den Spielplan