Nach und nach lernte Wunderlich die Stuttgarter Ensemblemitglieder kennen: Trude Eipperle mit ihrem hellen, strahlkräftigen Sopran, gefeierter Gast auf allen ersten Bühnen Europas. »Schon als er sich jedem einzelnen Ensemblemitglied vorstellte, fiel er vor der großen Kollegin Trude Eipperle auf die Knie und machte ihr Komplimente«, erzählte die Mezzosopranistin Hetty Plümacher später. »Er wußte, wie man die Herzen der Damen erobert.«[90] Dann die Sopranistin Lore Wissmann, die Gattin Windgassens, eine Darstellerin von unvergleichlicher Ausstrahlung, sowie Res Fischer, Altistin mit einer monumentalen Stimme. Auch sie eine imposante Darstellerin, Bayreuth-erprobt wie ihre Kollegen Gustav Neidlinger, Gerhard Stolze und Martha Mödl, die zwar nie ganz makellos sang, aber eine unerreichte Bühnenkünstlerin war. Neidlinger und Windgassen gastierten damals oft zusammen. Und jedesmal mußte Windgassen auf seinen Kollegen aufpassen: daß er nicht vorzeitig schon wieder nach Hause fuhr. Denn Neidlinger hatte stets Heimweh und wollte möglichst schnell wieder nach Stuttgart zurück. Überhaupt die Stuttgarter Tenorgarde: der heldische Windgassen, der lyrisch-dramatische Josef Traxel, der stimmstrahlende Eugene Tobin für das italienische Fach, dazu Gerhard Stolze und neu noch Wunderlich – diese Tenorgarde war zweifellos einmalig in ganz Deutschland. Und sie ist einmalig geblieben bis heute.
Zwischen den Stars und dem »Fußvolk«, den Arrivierten und den Jungen wurden keinerlei Rangunterschiede gemacht. Es gab einen Stammtisch in der Künstlerkantine, und da saßen sie alle nebeneinander: Hans Günter Nöcker, Wolfgang Windgassen, Hubert Buchta, Gustav Grefe und Walter Hagen-Groll. Auch Generalmusikdirektor Leitner kam oft in die Kantine, setzte sich an den Tisch und war zum jüngsten Eleven genauso freundlich wie zum Herrn Kammersänger. Wunderlich wurde von allen, speziell auch von den Bühnenarbeitern und den Orchestermusikern, geliebt wegen seines offenen, unkomplizierten Wesens. Auch Leitner mochte ihn: »Unser privater Kontakt war so, daß wir uns alles sagen konnten. Wenn ich ihm technisch etwas zeigen wollte, hat er sich sofort dafür interessiert und hat das auch angenommen.« Ferdinand Leitner, 1912 in Berlin geboren, hatte einst selber Gesang studiert – nicht weil er Sänger werden wollte, sondern weil er sich damals an den Rat Bruno Walters gehalten hatte: daß ein guter Operndirigent singen können müsse. Und Leitner konnte sogar noch mehr: Er war ein ausgezeichneter Pianist, hatte sich, vor allem während des Zweiten Weltkriegs, einen hervorragenden Namen als Liedbegleiter gemacht, als Partner von Walther Ludwig, Erna Berger oder Margarethe Klose. Schon 1947 war er von der Münchener Oper nach Stuttgart gekommen; seit 1950 amtierte er als Generalmusikdirektor der Württembergischen Staatstheater. Für die Sänger war er ein idealer Dirigent. Selbst die »dicksten« Wagner- oder Strauss-Partituren legte er »schlank« an – und dies zu einer Zeit, als die vielbeschworene Transparenz noch kein abgegriffenes Modewort war. Ein eigentlicher Stimmenfachmann, was nun auch Fritz Wunderlich zugute kam. »Weil sein Vater ja so früh starb, hat er mir immer gesagt: ›Jetzt müssen Sie mich erziehen!‹ Das habe ich dann auch getan, oft mit einem nicht sehr angenehmen Nachdruck. Manchmal wußte er beispielsweise nicht, wie er sich auszudrücken hatte – und prompt kam es dann falsch heraus, ungewollt jovial oder gar verletzend. Nicht immer war seine Naivität reizend. Und noch eine Unart hatte er: Stets, wenn er sich irgendwo hinsetzte, machte er sofort seine Stiefel auf. Das machte mich nervös, denn so mit herabhängenden Schnürsenkeln – das war ja auch gefährlich für ihn und wurde ihm letztlich gar zum Verhängnis.«[91]
Bald freundete sich Wunderlich mit Hans Günter Nöcker an, Baßbariton, gleichaltrig, aber schon das zweite Jahr in Stuttgart. »Wir beide waren die Jüngsten und waren sehr schnell sehr gut miteinander. Auf der Probebühne haben wir jeweils Tischtennismatchs ausgetragen, und zwar mit den beiden ältesten Söhnen des Dirigenten Josef Dünnwald. Mit der Zeit fanden wir das allerdings etwas langweilig und haben dann Fußball gespielt. Immer mal ging wieder etwas kaputt, obwohl wir die Fensterscheiben mit Brettern vermachten. So mußten wir regelmäßig zum Verwaltungsdirektor Hans Dick. Er hat uns dann die Leviten gelesen: Wozu eine Probebühne da sei. Und wozu nicht.«[92] Auch auf der Bühne standen sie oft zusammen: im Boris Godunow, im Tannhäuser und im Freischütz. Hier mimte Nöcker den Samiel, eine Sprechrolle. Die beiden ältesten Söhne von Staatskapellmeister Dünnwald, der die Freischütz-Aufführungen gewöhnlich dirigierte, wirkten als Statisten mit, der jüngste Sohn sang im Kinderchor, so daß die Kollegen dann witzelten: vier Dünnwälder in einer Aufführung!
Im neuen Jahr, gleich in den ersten Januartagen, kam für Wunderlich wiederum eine neue Partie hinzu, auch sie klein und eigentlich kaum der Rede wert: der Bote in Verdis Aida. Ein einziger Auftritt nur, kurz nach Beginn des ersten Aktes, genau zwanzig Takte lang. Nicht der Rede wert? Zumindest eine gewisse Schwierigkeit ergab sich bei italienischen Opern dadurch, daß in einer gewöhnlichen Vorstellung die Oper in deutscher Sprache gegeben wurde, daß aber, wenn italienische Starsänger gastierten, wenigstens ein Teil des Stuttgarter Hausensembles ihre Partie ebenfalls italienisch sang. »Zebravorstellung« nannte man das: halb italienisch, halb deutsch. Für Wunderlich kein Problem: Mit Italienisch hatte er sich ja schon an der Freiburger Hochschule abgegeben, und seine zwanzig Takte lange Partie lernte er im Handumdrehn in beiden Sprachen. Gastierte nun ein italienischer Radames in Stuttgart oder eine italienische Aida, so sang Wunderlich seine Partie ebenfalls italienisch. Es muß in dieser Zeit gewesen sein: eine Aida-Vorstellung, Wunderlich wartete hinter der Bühne auf seinen kurzen Botenauftritt, alberte mit den Dünnwald-Söhnen noch herum – und eilte dann, aufs Stichwort genau, hinaus auf die Bühne und ließ dort seinen Botenbericht abspulen. In italienischer Sprache – nur leider mitten in einer rein deutschsprachigen, gewöhnlichen Repertoirevorstellung. Wie peinlich! Und wie er die Hälfte seines Textes hinter sich gebracht hatte, bemerkte er seinen Fauxpas und schaltete, nochmals peinlich, auf die deutsche Sprache um.
18. Februar 1956. Eine Repertoirevorstellung der Zauberflöte stand auf dem Programm. Die Sängerbesetzung war achtunggebietend: Otto von Rohr als Sarastro, Josef Traxel als Tamino und Friederike Sailer als Pamina, dazu Olga Moll als Königin der Nacht und unter den drei Damen Grace Hoffman und Res Fischer. Selbst kleine Partien waren namhaft besetzt: Die beiden Geharnischten sangen Wolfgang Windgassen und Hans Gunter Nöcker. Josef Dünnwald dirigierte. Doch am Morgen schon rief man bei ihm an: Traxel habe leider abgesagt. »Ich bin dann hinüber ins Betriebsbüro gegangen, um zu hören, wer nun singt«, erzählte Staatskapellmeister Dünnwald. »Sofort schickte man nach Windgassen – er war im Haus auf einer Probe –, um ihn zu bitten, den Tamino zu übernehmen. Meistens sang Windgassen zwar heldische Partien, Lohengrin, Siegmund, Othello oder den Max im Freischütz, aber er wurde regelmäßig auch noch für lyrische Partien angesetzt. Windgassen kam ins Betriebsbüro. ›Der Traxel hat abgesagt. Würden Sie so freundlich sein und den Tamino übernehmen?‹ ›Na klar, mach ich‹, sagte er bereitwillig und ging wieder auf seine Probe.«
Ende gut, alles gut? »Nach zwei, drei Minuten kam Windgassen wieder zurück: ›Sagt mal, warum laßt ihr eigentlich nicht den Wunderlich singen?‹ Darauf meinte der Betriebsdirektor: ›Entschuldigung, Herr Kammersänger, aber wir können Ihnen doch nicht zumuten, daß ein Anfänger den Tamino singt und Sie nur die kleine Partie des Geharnischten!‹ ›Ja, warum denn nicht?‹ konterte Windgassen. ›Der muß doch auch mal ran. Ich weiß, daß er die Partie studiert hat. Also laßt ihn ruhig singen; das ist eine gute Gelegenheit.‹ Und doppelte nach: ›Selbstverständlich bleibt es dabei, ich sing’ den Geharnischten.‹« Dünnwald willigte ein; man rief bei Wunderlich an, und Fritz sagte begeistert zu. Was auf dem Betriebsbüro damals allerdings keiner gewußt hat: daß Wunderlich vor geraumer Zeit den Kammersänger Windgassen schon